Rainer Höß, der Enkel des Kommandanten von Auschwitz, berichtet über die Grauen in dem Großlager. Gemeinsam mit seinem Mitstreiter Ralf-Dieter Krüger warnt er vor den Nazis von heute: „Wir müssen den Leugnern die Stirn bieten.“

Rutesheim - Richtig ärgern kann sich Rainer Höß, wenn vermeintlich gebildete Menschen seinen Großvater mit dem Stellvertreter Hitlers verwechseln. „Ich war in einer Klasse, da hat mich die Lehrerin als Enkel von Rudolf Heß vorgestellt“, erinnert sich der 52-Jährige in der Christian-Wagner-Bücherei an einen Schulbesuch in Berlin. „Als ich die Lehrerin bat, das zu korrigieren, meinte sie, dass es die Schüler in zwei Stunden sowieso vergessen.“

 

Für den Enkel des Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz ist diese Szene symptomatisch für den heutigen Umgang vieler Deutschen mit der braunen Vergangenheit. „Sie sagen: Es betrifft mich nicht. Und wenn es sie betrifft, dann schieben sie es auf die Politik.“

Mehr antisemitische Vorfälle

Auch Tommy Scheeff räumt ein, dass er vor einigen Jahren die Gefahr durch Nazi-Ideologie für nicht sonderlich aktuell gehalten hat. Die steigende Anzahl antisemitischer Vorfälle in jüngster Zeit ließen den Chef der SPD in Rutesheim umdenken. Scheeff lud Rainer Höß ein, über seine Erfahrungen und seine Arbeit zu sprechen.

Jetzt sitzt der Enkel des „Architekten des Todes“ im voll besetzten Büchereisaal. Viele ältere Menschen sind gekommen, die die Schrecken des Krieges wohl erlebt haben. Jugendliche sucht man an diesem lauen Samstagabend weitgehend vergebens.

Rainer Höß hat einen Mitstreiter auf der Bühne. Ralf-Dieter Krüger ist Großneffe von Walter Gerlach, der das KZ Sachsenburg geleitet hatte. Beide leben in Weil der Stadt, haben sich zufälligerweise in einem Café kennengelernt und festgestellt, dass sie ein ähnliches Schicksal haben.

Kein Kontakt zur Familie

Doch während Rainer Höß schon seit 18 Jahren die Verbrechen in Auschwitz und die seines Großvaters öffentlich aufarbeitet, dringt der fast 70jährige Krüger erst seit relativ kurzer Zeit in die braunen Untiefen der Familie vor. Mit ambivalenten Resultaten: „Ein Teil sind Jidden, der andere Teil bringt sie um“, zitiert Krüger seinen Vater. Onkel Walter gehörte zum letzteren. Bei den Nürnberger Prozessen trat er aber lediglich als Zeuge auf, nicht als Angeklagter. Dennoch will der einstige Pfarrer Krüger mehr wissen über die Nazi-Vergangenheit in seiner Familie, „auch wenn das nicht alle bei uns gerne sehen.“

Zumindest dieses Problem hat Höß nicht. 1985 hat er den Kontakt zu seinem Vater und zum ganzen Rest der Familie abgebrochen. „Vaters Argument war ein 1,20 Meter langer Ledergürtel“ erinnert sich Höß an seine Kindheit, die durch äußerste Brutalität geprägt war. Einer seiner damals besten Freunde entstammte einer jüdischen Familie, die den jungen Rainer einlud, mit ihnen gemeinsam das Pessach-Fest zu feiern. Als der Junge seinen Vater um Erlaubnis fragte, brach der ihm als Antwort das Nasenbein.

Hans-Jürgen Höß, Rainers Vater, hat nie mit der Naziideologie gebrochen. Er wuchs in Auschwitz auf. Die Familie hatte ein stattliches Anwesen direkt neben dem Krematorium. Dort wurde auch Obst angebaut. „Die Kinder mussten erst die Asche abklopfen, bevor sie die Erdbeeren essen durften.“

Anwesen direkt neben dem Krematorium

Das Rutesheimer Publikum sieht alte Fotos von spielenden Jungen in großzügigen Gärten. Unter denen waren auch Kinder aus dem KZ, berichtet Rainer Höß. Die durften als temporäre Spielkameraden das Lager kurzfristig verlassen. Ihrem Schicksal konnten sie dennoch nicht entgehen.

Höß beschönigt seine Vorfahren nicht, im Gegenteil: „Ohne meinen Großvater wäre Auschwitz nicht das, was es wurde.“ Allein das Teillager Birkenau hätte auf 177 Fußballfeldern Platz gehabt. Die Vernichtungsmaschinerie funktionierte mit Brutalität und Tempo: In nur 45 Tagen wurden 425 000 Ungarn umgebracht. Höß räumt auch mit Bild des vergleichsweise schnellen Todes durch Gasduschen aus: „Totaler Blödsinn!“ Je nach Dosierung des Giftes Zyklon B dauerte der Todeskampf bis zu 45 Minuten. „Die Menschen verkrampften, verkeilten sich und mussten nachher mit Äxten getrennt werden.“

Nachlass im Institut für Zeitgeschichte

All das erzählt er ohne Emotionen. Erst als Höß auf den alten Vorwurf angesprochen wird, er wolle sich mit dem Erbe seines Großvaters bereichern, wird seine Stimme schärfer: „Der Nachlass liegt beim Institut für Zeitgeschichte in München. Hätte ich mich damit bereichern wollen, hätte ich ihn an Altnazis verkauft. Die gibt es selbst heute mehr als genug.“

Diese sind es auch, so sagt er, die ihn antreiben: „Wir müssen den Leugnern, den AfD’lern und NPD’lern die Stirn bieten. Heute und erst recht in zehn Jahren, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt.“