Kleine Handwerker und Einzelhändler mit außergewöhnlichem Sortiment gibt es in der Stuttgarter Innenstadt kaum noch. Wir machen uns auf die Suche. Heute: das Stuttgarter Früchtle.

Stuttgart - Es gibt Geräusche, die sind fast vollständig aus unserer Welt verschwunden. Das quakige Einwählen eines Modems gehört dazu, ebenso das surrende Zurückspulen einer Videokassette. Das helle und freundliche Bimmeln beim Betreten eines kleinen Geschäfts auch. Wer es mal wieder hören will, der muss nur ins Stuttgarter Früchtle. Direkt an der Schwabstraße beim Bismarckplatz, gibt es seit über 30 Jahren tagesfrisches Obst und Gemüse, dazu frische Eier, Gewürze, Wein und Saft. Und nicht nur das: Es gibt immer ein offenes Ohr, warme Worte und auch mal eine Clementine geschenkt – das eher gesunde Gegenstück zum Rädle Wurst.

 

Aber so ist das eben bei traditionsreichen Läden wie dem Stuttgarter Früchtle: Dort existieren sie noch, die Bräuche der guten alten Zeit. Und in besonderem Maße gilt das eben für diesen charmanten kleinen Laden, weil er ein echter Familienbetrieb ist. Bis vor wenigen Jahren geführt von Annemarie Wilk (76), seit Mitte der Achtziger die gute Seele im Früchtle, und seither in den Händen ihrer Tochter Stephanie (39), die quasi zwischen Gurken, Kürbissen und Spargel im Früchtle aufgewachsen ist. Und nicht nur sie: „Schon vor 30 Jahren habe ich die Kinder, die mit ihren Eltern in den Laden kamen, mit Schokolade gefüttert. Doch heute“, meint Annemarie Wilk, und ein nostalgisches Funkeln blitzt in ihren Augen auf, „kommen sie mit ihren eigenen Kindern zu uns.“ Die gehen natürlich auch nicht ohne ein Stückchen Schokolade aus dem Geschäft.

Auch Restaurants kaufen im Früchtle ein

Längst sind die beiden ein perfekt aufeinander eingespieltes Team. Jeden Morgen fährt Stephanie, die halblangen braunen Haare zum Zopf gebunden, auf den Großmarkt in Stuttgart-Wangen („Wo sie sehr beliebt ist!“, schwärmt ihre Mutter) und sucht die besten Produkte für den Laden aus. Das frühe Aufstehen um vier Uhr morgens macht ihr nichts aus. Im Gegenteil: „Ich freue mich jeden Tag auf den Großmarkt“, erzählt sie. Längst kennen die Obst- und Gemüsehändler sie, überlassen ihr ihre Spitzenware. Das hat sich natürlich herumgesprochen: Das Restaurant Spätzleschwob ums Eck etwa bezieht vom Gemüse bis zu den Eiern ausnahmslos alles vom Früchtle und verlässt sich vor allem beim Spargel auf die ausgezeichnete Qualität. „Einige Gäste gehen zur Spargelzeit jeden Tag dort essen, weil es so gut schmeckt“, sagt Stephanie zufrieden.

Man merkt schnell: Ebenso wie ihre Mutter brennt sie für das Geschäft. Zuvor war sie in einer Versicherung angestellt, ein Schreibtischjob. „Das war nichts für mich, ich kann nicht still sitzen.“ Seitenblick auf die Mutter. „Ja, ich schätze, das hat sie von mir“, lacht die. Jetzt fährt die Tochter nach dem Großmarkt ihre Ware an Privathaushalte, Gastronomen oder Büros aus, kommt dabei schon mal bis nach Göppingen. Ihre Mutter hält derweil im Laden die Stellung und genießt insbesondere eines: „Mir macht die Arbeit so unglaublich viel Spaß, weil ich so viel über die Menschen hier erfahre. Für viele bin ich der erste Ansprechpartner und wir reden über alles mögliche. Wenn ich hier eines gelernt habe, dann ist es zuhören.“ In ihren 30 Früchtle-Jahren kommt sie auf drei Kunden, auf die sie besser verzichtet hätte. Keine üble Bilanz. Und ein Zeichen für ein mehr als gelungenes Miteinander, wie man es großen Städten gerne abspricht.

Der Bismarckplatz blüht auf

Einverstanden ist Annemarie Wilk nicht mit jeder Entwicklung, die der Westen in den letzten 30 Jahren hinter sich gebracht hat. „Als ich herkam, war der Westen eine richtige Stadt in der Stadt, bevölkert von ihren Bewohnern, die ihre Geschäfte im Westen erledigen. Das ist nicht mehr so.“ Die Tochter ergänzt: „Heute ist es alles schnelllebiger, Läden kommen und gehen. Aber ich finde es toll, wie der neue Bismarckplatz nun das Viertel belebt hat.“

Sie müssen es wissen: Sie arbeiten und leben dort, direkt an den Laden schließt sich ihre Wohnung an. Und wirken in ihrem eigenen kleinen Reich aus glänzendem Rosenkohl, roten Tomaten und duftenden Orangen zufrieden. Sicher, es gab die eine oder andere Krise, manche Talsohle, die durchschritten werden wollte. Mittlerweile läuft das Früchtle wieder stabil und ist zuverlässiger Frischelieferant für die Stammkunden, Schulkinder, Handwerker und Westler. Man fühlt sich in bester gallischer Manier gewappnet gegen den schier übermächtigen Feind namens Discounter-Billigware. „Wenn die Menschen etwas Gutes wollen, kommen sie zu uns“, sagen die Frauen. „Junge Leute essen bewusster und kaufen dann auch bei uns ein.“