Die Stuttgarterin Sabine Rieker ist aus dem Hamsterrad ausgestiegen und macht seither,  was sie will - sie ist die Postkartenschreiberin. Ein Protokoll eines etwas anderen Interviews zwischen analoger und digitaler Welt.

Stuttgart - „Die Postkartenschreiberin“ könnte sowohl der Name eines epischen Amaro-Crema-Filter-Films mit Oscar-Ambitionen sein sowie ein ZDF-Blockbuster mit Veronica Ferres in der Hauptrolle. Läuft beides wunderbar im Kopfkino ab. Die Postkartenschreiberin gibt es jedoch nicht auf Zelluloid, sondern als Facebook- und Instagram-Account. Gepostet werden ausschließlich Postkarten. Mitunter sehr detailverliebte, verschnörkelte und meist randvoll beschriebene Postkarten.

Sabine Rieker ist die Postkartenschreiberin und wohnt seit einem knappen Jahr in Stuttgart. Durch die üblichen Social-Media-Mechaniken sind wir auf sie aufmerksam geworden. Was folgte war ein Interview zwischen analoger und digitaler Welt:

 

Auf 22 Fragen sendet sie 22 Antwort-Postkarten an Stadtkind. Nicht zu vergessen, dass der Eingang der Fragen per Email – natürlich - mit einer Postkarte bestätigt wird. „Dafür nehme ich mir sehr, sehr gerne Zeit“, schreibt darauf Sabine. Nach ein paar Aufträgen würde sie loslegen. Genau, Aufträge. Sabine wird beauftragt, Postkarten zu schreiben. Prompt fällt einem der professionelle (Liebes-)Briefeschreiber Theodore ein aus dem Film „Her“ von Spike Jonze. Jener verliebt sich in die Stimme seines Betriebssystem, also sozusagen in Siri.

Sabine hat sich in keine Computerstimme verliebt, sondern (auch) in Stuttgart, in „StuttgART“ wie sie die Stadt schreibt, also mit Betonung auf Kunst. Das war im 10. Schuljahr auf Klassenfahrt. „Seitdem wollte ich in StuttgART leben.“ Ihr Weg führte zunächst über Bonn, wo sie „DEN Schwaben“ traf, erzählt sie, und im Dezember vergangenen Jahres schließlich ihren Wunschtraum erfüllte und ihre Erwartungen im und an den Kessel übertroffen wurden. Weil in Stuttgart findet sie alles total super. Von der Topographie ("San Francisco Deutschlands“) über das Essen, dem Dialekt (!), dem großen Kulturangebot bis zu den „offenen und herzlichen Menschen in tollen Cafés“. Mit ihrer ehrlichen Stuttgart-Begeisterung könnte Sabine bei der Stuttgart Marketing GmbH anfangen.

Aus dem Hamsterrad ausgestiegen

Würde höchstwahrscheinlich nicht in ihre aktuelle Planung passen, denn nach ihren ersten 28 ½ Lebensjahren, „ein Lebenslauf ohne längere Verschnaufpausen“, hatte sie jene Verschnaufpause nötig. „Seitdem gehe ich meinen Lebensweg langsam, Schritt für Schritt, bewusst, achtsam, lasse mich treiben, folge meinem Herzen und Bauch statt des Kopfes und erkenne, dass ich immer war, was ich bin: Die Postkartenschreiberin tut, was sie liebt.“ Sie ist aus dem berühmten „Hamsterrad“ ausgestiegen, hat „physischen & psychischen Ballast“ abgeworfen, um zu erkennen, was sie wirklich machen will – eine, ihre Art von Schriftstellerin zu sein.

Sabine hat jenen Schritt gewagt, von dem viele Menschen träumen, sich aber letzten Endes oft doch nicht trauen: Genau das zu tun, was man am liebsten tun würde, selbst wenn es mit finanziellen, materiellen Einschnitten verbunden ist. Das führt zur Frage, die Sabine jeder stellt, wie sie sagt: Kann man davon leben, vom Postkarten schreiben? „Ob 'man' davon leben kann, weiß ich nicht. Ich lebe davon – und wie (lacht)!“ Und sie stellt die Gegenfragen: „Wie will ich leben? Was brauche ich (nicht) zum Leben? Was ist mir (nicht) wichtig? Ich lebe von dem Postkartenschreiben minimalistischer und glücklicher als je zuvor - und fühle mich reich.“

Mit Postkarten Freude bereiten


Klingt eigentlich logisch. Denn ihr Alltag ist losgelöst von Arbeitsbeginn und Feierabend, sie reiht „einen Feiertag an den nächsten, indem ich von Moment zu Moment lebe“ und ihr „Arbeitsplatz“ sind wechselnde Cafés (u.a. Holzapfel, Tiffin, Tarte & Törtchen, Galào, Zimt & Zucker, Condesa). In aktueller Internetsprache ausgedrückt: Was ist das nur für 1 Life, welches sich Sabine rausgesucht hat.

Die Postkartenschreiberin legt nicht nur Arbeitszeiten und Arbeitsort selbst fest, gerade die richtige Schreibumgebung sei neben dem Stift und Papier sehr wichtig für sie, sondern den Inhalt der Postkarte. „Ich brauche bloß eine Adresse.“ Auch wieder logisch. Denn für den Rest ist sie ja schließlich da. Andere Menschen mit einer schönen Postkarte eine Freude zu bereiten. Weil man es vielleicht selbst nicht kann. Oder die Zeit dafür nicht hat. Nein, eher weil man es nicht kann. Von diesem Umstand lebt ebenso erwähnter Theodore in „Her“. Auf den Film hätten sie übrigens schon mehrere Männer hingewiesen, meint sie und sah ihn sich schließlich begeistert an. Laut Sabine gibt es auf dieser Erde unzählige Postkartenschreiber/innen. Auf www.postcrossing.com versammelt sich eine große Szene.

Mit Herz und Liebe zum Detail

Die Grundlagen für eine Postkartenschreiberin ist natürlich die richtige Karte: „Ich (be)schreibe grundsätzlich nur Motive, die mir selbst gefallen.“ Neben „schön gestalteten“ Spruchkarten gefällt Sabine von Architektur bis Fotografie und Design ziemlich viel. „Im Grunde laufen alle meine Interessen auf Postkarten zusammen. Die Mischung der Medien macht's.“ Wie schreibt man überhaupt eine gute Postkarte? „Eine 'gute' Postkarte schreibe ich mit Herz, mit Liebe - zum Detail. Ich schreibe, wenn mir danach ist (das ist meistens so) und zwinge mich nicht zum Schreiben, wenn ich schlecht drauf bin (kommt auch vor).“

Und gibt es eine bestimmte Postkartensprache? Nein, nur, wie bei anderen Schriftstücken einen eigenen Stil. „Für mein Empfinden schreibe ich auf Postkarten in keiner anderen Sprache als auf/in anderen Medien. Ich passe mich diesen jeweils gerne an, spiele damit, mache sie selbst zum Inhalt des Schreibens. Das schon. Es gibt also meine (Postkarten-)Sprache.“ Und die wirkt herrlich bildhaft träumerisch, fernab vom hastig hin gesudelten Urlaubs-Postkarten-Triptychon: „Hi Omi, das Hotel ist super, das Wetter schön und das Essen lecker.“

Ist die Postkarte die Zukunft?

Nochmals eine letzte Brücke zu „Her“: Selbst wenn die Postkarte als Kommunikationsmittel in digitalisierten Medien, die sie bis vor zwei Jahren „total ablehnte“, ziemlich retro wirkt, ist sie vielleicht doch eher die Zukunft wie der Briefschreiber Theodore? Die Antwort hat den Klang ihrer Postkarten (wurde immerhin als Postkarte geschrieben): „Ich lebte lange rückwärtsgewandt, klammerte mich an die und klebte an der Vergangenheit. Mittlerweile konzentriere ich mich auf die Gegenwart und übe mich darin, das Hier und Jetzt, einzelne Momente, Augenblicke ganz bewusst wahrzunehmen und zu genießen - mit allen Sinnen.“ Ob sie also die Zukunft ist, wird man sehen. Der Gedanke, dass der Bedarf und die Nachfrage nach etwas Postkarten-Entschleunigung in Hyper-Zeiten weiter steigt, ist sicherlich nicht abwegig.

Ach ja: Ihre 22 Antwort-Postkarten an Stadtkind kamen nie an. Denn Sabine hat sie an 22 verschiedene Stuttgarter Adressen (Firmen/Gastros/ Läden und andere Einrichtungen) geschickt, in der Hoffnung, #stadtkindontour würde sie schon einsammeln. Vielleicht machen wir das noch. Denn: Wer freut sich nicht über eine Postkarte? Eben.

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