Seit 150 Jahren gibt es den Sängerbund Rutesheim. Beim Festakt blicken die Mitglieder auf bewegte Zeiten zurück. Da der Nachwuchs fehlt, ist die Zukunft ungewiss.

Wir wandern heut ins Schwabenland“ ist ein symbolträchtiges Lied für den Sängerbund Rutesheim. Vor 65 Jahren hat die Singgemeinschaft damit nämlich eine Mauer eingerissen, die seit 85 Jahren bestand: Auch Frauen durften mitsingen. Am Sonntag hat der älteste Verein der Stadt mit einem Festakt in der Aula des Schulzentrums seinen 150-jährigen Geburtstag gefeiert.

 

Den Festakt haben der Sängerbund Chor musikalisch gemeinsam mit Kai Müller (Klavier) und Uta Scheirle (Gesang) gestaltet, die Chansons und Couplets darboten. Grußworte sprachen der Vorstand Armin Philippin und die Bürgermeisterin Susanne Widmaier. Ehrungen für den Chorverband Kepler nahm die Präsidentin Angelika Puritscher vor.

Landauf, landab gründen sich Gesangsvereine

Es ist eine Zeit gewesen, in der das nationale Bewusstsein erstarkte, sich ein neues Verständnis für Kultur bildete und die Arbeit von Förderern der Musikausbildung wie Friedrich Silcher in Württemberg Früchte zu tragen begannen. Landauf und landab haben sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Gesangsvereine auch auf dem Land gegründet. So 1872 auch der Sängerbund Rutesheim. Fünf Jahre später folgte „Liederlust“ in Perouse, der Malmsheimer Gesangsverein bildete sich auch 1877. In Renningen gab es schon seit 1840 einen Gesangsverein. In Flacht hatte sich 1858 die „Concordia“ gegründet, der Hemminger Gesangsverein 1862.

„150 Jahre Pflege des Chorgesangs ist eine stolze Zeit“, sagt Armin Philippin. Er ist seit 33 Jahren der Vorsitzende des Sängerbundes. Grundlegende politische und gesellschaftliche Umwälzungen fallen in diese Zeit. Das Kaiserreich war neu entstanden. Auf dessen Blüte folgte der erste Weltkrieg, diesem die Weimarer Republik, in diese Epoche fiel die Inflation. „Das Dritte Reiches kam – verbunden mit starker staatlicher Reglementierung des täglichen Lebens, und der fürchterliche Zweite Weltkrieg. Nach diesem dann der Wiederaufbau, der uns großen Wohlstand brachte“, resümiert Philippin.

Nationale Gedanken

Die Gründung des Sängerbunds Rutesheim fand unter dem Vorstand von Friedrich Mann und dem Chorleiter, dem Oberlehrer Schmezer, statt. 13 Rutesheimer Bürger gehörten zu den Gründungsmitgliedern. Entsprechend dem damaligen Zeitgeist, beherrschten vaterländische, nationale Gedanken die Menschen, was auch im gepflegten Liedgut jener Zeit ihren Ausdruck fand.

Die Vereinsprotokolle seit der Gründung bis Kriegsende sind durch Kriegseinwirkung verloren gegangen. Das 25-jährige Jubiläum 1897 findet im Gemeinderatsprotokoll der Gemeinde Rutesheim Erwähnung, weil eine Spende von 25 Mark gewährt wurde. Ein Höhepunkt der Vereinsgeschichte war die Fahnenweihe im Jahr 1912.

Eine Eintragung im Gemeinderatsprotokoll aus den Jahre 1936 über eine Weihnachtsfeier der drei örtlichen Vereine (Musik-, Gesangs- und Turnverein) zeigt von den Bestrebungen, im Dritten Reich eine Konzentration der Vereine zu erreichen. Die dann folgende Kriegszeit brachte die Vereinsarbeit praktisch zum Erliegen.

1946 erreichte das Vereinsmitglied Karl Ost, nach einer Vorsprache bei der damaligen Militärregierung, dass der Verein unter seinem alten Namen „Sängerbund“ den Chorgesang wieder aufnehmen durfte. Und so konnte 1947 das 75-jährige Jubiläum in der Festhalle in Rutesheim mit einem Festkonzert gefeiert werden.

„Der Nachwuchs blieb aus“

„Mitte der 1950er Jahre stagnierten die Männerchöre, der Nachwuchs blieb aus. Auch beim Sängerbund Rutesheim war diese Entwicklung deutlich zu spüren“, schilderte Vorsitzender Armin Philippin die Entwicklung in seinem Rückblick. Von einst im Jahr 1947 noch singenden 75 Männern waren 1954 noch 40 übrig geblieben. Die damals von den Männerchören gepflegte pseudoromantische, sentimentale und vaterländisch geprägte Chorliteratur fand bei jungen Menschen kaum noch Anklang.

Der damalige Chorleiter Helmut Kuppinger hatte beim Jahresausflug 1957 die rettende Idee. Er hatte das einfache vierstimmige Marschlied „Wir wandern heut ins Schwabenland“ eingeübt. Der Reiz war, dass dem Refrain zwei Frauenstimmen überlegt waren. Beim ersten Halt in der Gaststätte Tripsdrill in der Altweibermühle übte Kuppinger mit den mitgereisten Frauen diese Überstimmen ein. Erstaunt war der Chorleiter, dass die Frauen die Melodie so schnell beherrschten, erstaunt aber auch über die vielen guten Stimmen. Noch in Tripsdrill erfolgte die Uraufführung. Von dem weiten, ungewohnten Klangvolumen waren Männer und Frauen so begeistert, dass das Lied während des Ausfluges immer wieder angestimmt wurde. Selbst zum Abschluss vor dem Rutesheimer Rathaus wurde es nochmals gesungen.

„So ist unser gemischter Chor vor nunmehr 65 Jahren entstanden. Der kam bei uns gut an, unter allen Chorleitern und seit 25 Jahren unter der jetzigen Chorleiterin Monika Wallner wurde er erfolgreich gepflegt“, freut sich der Vorsitzende. Heute singen im Verein 32 aktive Mitglieder – davon 22 Frauen und noch zehn Männer.

Unter der Leitung des damaligen Ehrenvorstandes Otto Weiß, und mit großen finanziellen und zeitlichen Opfern der Vereinsmitglieder, wurde 1965 das eigene Sängerheim fertiggestellt. „Es ist eine Heimat des Chorgesangs und der Geselligkeit gewesen. Leider mussten wir dieses 2010 verkaufen, da wir nicht mehr imstande waren, es selbst weiterzuführen“, bedauert Armin Philippin. Die Mitglieder, sowohl Frauen als auch Männer, die früher Hand angelegt haben, waren altershalber nicht mehr in der Lage, das Vereinsheim instand zu halten. Gekauft hat es die Altpietistische Gemeinde. „Jetzt haben wir ein neues Zuhause im API-Heim, wo wir außer singen auch Feste feiern dürfen“, sagt Philippin.

„Leider sind die negativen Zeichen der Zeit auch an uns nicht vorübergegangen. Dem Chor fehlt es an jungem Nachwuchs“, sagt Philippin mit Blick auf den Altersdurchschnitt der Sängerinnen und Sänger. Er fügt aber hinzu: „Wichtig ist die Lebensfreude, dann spielt das Alter keine Rolle.“ Zusätzlich hat auch die Coronapandemie ihren Teil dazu beigetragen. Insgesamt neun Sängerinnen und Sänger hätten sich verabschiedet, was die Singgemeinschaft sehr geschwächt hat. „So stehen wir nun im 150. Jahr des Bestehens des Sängerbundes Rutesheim und wissen nicht, wie lange er noch besteht“, macht sich der Vorsitzende Sorgen.

Interesse? Der Chor probt jeden Freitag um 20 Uhr im Miemimger Weg 9, Rutesheim.