Wirsing, Knollensellerie, aber bitte sexy. Die Winterküche kann besser sein als ihr Ruf. Wir stellen spannende Gerichte aus vier Stuttgarter Locations vor – von der Weinstube bis zum Sternerestaurant.

Lokales: Matthias Ring (mri)

Im Winter bekommen manche Genießer lange Gesichter, weil sie an Kohl, Kohl oder Kohl denken, egal ob weiß, grün oder rot, ob mit Blumen oder Rosen – Kohl! Aber sonst? Immer wieder Gaisburger Marsch, Linsen mit Spätzle und irgendwas mit Sauerkraut? Ja, der Warenkorb ist anders als im Sommer und Herbst. Dennoch ist die Winterküche besser als ihr Ruf.

 

Zweierlei Knollensellerie mit Sayve Trüffel im veganen Vhy

Eine zusätzliche Herausforderung ist es, wenn vegan gekocht wird wie im Restaurant Vhy des ehemaligen VfB-Torwarts Timo Hildebrand. Die aktuelle Karte des Hotspots im Stuttgarter Westen bietet zum Beispiel Zweierlei vom Knollensellerie mit Sayve Trüffel, Haselnuss und Dörrpflaume. Das Gericht sei einfach, aber einfach gut, sagt der Koch und Betriebsleiter Bjoern Boltz, von dem das Gericht stammt. Die Sellerieknolle wird im Ganzen anderthalb Stunden im Ofen gegart, zum Schluss kommt vegane Nussbutter hinzu. Ein Teil der Knolle wird püriert und dient als Unterlage für die gebackenen Scheiben. Getrocknete Pflaumenstücke, Haselnussscheiben- und -öl dazu, fertig. Und der Trüffel? Ist gar kein echter Trüffel, mit dem sich viele Wintergerichte veredeln lassen. Es handelt sich um eine vegane Käsealternative auf Kichererbsenbasis, die für Schmelz sorgt. Generell sagt Boltz: „Ich liebe die Winterküche mit all ihrer Deftigkeit.“

Wirsingrouladen mit blauem Kartoffelschnee in der Speisekammer West

In der Speisekammer West wird nicht ausschließlich vegetarisch oder vegan gekocht, aber auch, und vor allem: Bio-zertifiziert. „Ich finde den Winter total toll, weil es so viel mehr gibt“, sagt die Inhaberin Dorit Münzer-Bock. Schwieriger hingegen sei trotz der allgemeinen Stimmungsaufhellung das Frühjahr. Es dauert halt, bis die ersten Frühlingsboten mit Spargel, Radieschen oder Erdbeeren in der Küche landen. Ein „Renner“ auf der vielfältigen Winterkarte der Speisekammer: Wirsingroulade mit Kürbis, Walnüssen, Umami-Jus und blauem Kartoffelschnee. Dafür wird Hokkaidokürbis zerkleinert, gegart und mit gerösteten Walnüssen als Füllung für die helleren Blätter des Wirsings gemixt. Dann in den Ofen damit. Der „Schnee“ entsteht aus durch eine Presse gedrückte blaue Kartoffeln. Und um den Umami-Effekt in der veganen Bratensoße zu erzielen, werden Tomatenmark, schwarzer Knoblauch, Shiitake, Sellerie, Ingwer, Zitronengras und einiges mehr sehr lange eingekocht.

Rote-Bete-Knödel mit Parmesanschaum im Knausbira Stüble

Auch im Knausbira Stüble wird inzwischen mehr auf Gemüse gesetzt. Seit knapp drei Jahren ist in der beliebten Weinstube in Hedelfingen der Junior Gabriel Schallmeir als Küchenchef am Werk. Klassiker wie Maultaschen, Rostbraten und Gaisburger Marsch gibt es weiterhin. Aber auch Schallmeir kann traditionsbewusste Schwaben überraschen, zum Beispiel mit einem Gemüse, das man aus dem hohen Norden eher als Eintopf mit Pinkel (geräucherte Grützwurst) kennt. „Grünkohl ist bei uns immer mehr auf dem Vormarsch, ob roh als Salat oder knackig gebraten mit pochiertem Ei“, so der 29-Jährige. Begehrt seien auch die Rote-Bete-Knödel mit karamellisierten Walnüssen und Parmesanschaum, wofür der geriebene Käse in Milch und Sahne eingerührt wird. Die Rote Bete wird im Ganzen gegart, püriert und mit Knödelbrot vermengt. Schallmeir: „Der Winter ist schon anspruchsvoller, da muss man schauen, aus welchen Produkten man was machen kann“ – und rechtzeitig vorsorgen. Zum Beispiel Radieschen einlegen.

Gegrilltes Rind mit Wildem Brokkoli und Kohl bei Benjamin Maerz

Die alte Kunst des Einmachens und Fermentierens wird – wie so viele Techniken – seit einigen Jahren in den Sterneküchen perfektioniert. Benjamin Maerz vereint in seinem Hotelrestaurant in Bietigheim „Heimweh & Fernweh“, so seine Philosophie, in der Traditionelles mit neuen Inspirationen kombiniert wird. 95 Prozent der Produkte in seiner Sterneküche seien saisonal und regional. Und da im Sommer mehrere Tage eingeweckt und vakuumiert wird, wundert es nicht weiter, wenn auf der aktuellen Karte auch Tomate und Zucchini auftauchen. Aber ebenso Wilder Brokkoli und Kohl zu Entenbrust oder gegrilltem Rind.

Für eines der unbeliebtesten Gemüse muss man mal eine Lanze brechen, denn der wilde Ur-Brokkoli mit seinen langen Stilen kann kurz gebraten in Sesamöl ein ziemlich knackiger Genuss sein. Die Zubereitung des mit sich selbst gefüllten Weißkohls ist aufwendiger: ein Teil als Kimchi eingelegt, der andere blanchiert, ausgewellt, gerollt, über Nacht in Alufolie eingewickelt und dann im Dämpfer nur leicht erhitzt. Auch weniger bekannten Kürbissorten kann Benjamin Maerz viel abgewinnen, nur einem Gemüse nicht – Rosenkohl. Wurde der früher muffig weich gekocht in Béchamelsauce ertränkt, weiß man ihn inzwischen allerdings auch bissfest und hellgrün zu genießen. Vielleicht lässt sich generell sagen: Nie war Überwintern so schmackhaft wie heute.