Ulrich Rasche führt das Chorprojekt „30. September“ auf – und verwandelt den Protest in eine feierliche Messe.

Stuttgart - Es gibt Kalenderdaten, die zu Chiffren werden. Tag, Monat und Jahr reichen – und jeder weiß Bescheid. 11. September 2001? In New York stürzen die Zwillingstürme ein. 30. September 2010? In Stuttgart fegt die Polizei mit Wasserwerfern junge und alte Demonstranten von den Beinen – und natürlich haben beide Ereignisse nichts, aber auch gar nichts miteinander gemein, außer eben der Tatsache, dass der jeweilige Tag mittlerweile mit einer Bedeutung aufgeladen ist, die weit über diesen Tag hinausweist. Das Datum wird zum Symbol, zum unmissverständlichen Kürzel für einen Einschnitt in die Geschichte, die jenseits von 9/11 auch mal die kleine Landesgeschichte sein kann. Denn hier, in Baden-Württemberg, hat der 30. September weitreichende Folgen gehabt. Nichts weniger als das Ende der mehr als fünfzigjährigen CDU-Herrschaft hat er eingeleitet, eine herkulische Tat, die er nur vollbringen konnte, weil von den an diesem Tag eingesetzten Wasserwerfern und Schlagstöcken eine ungeheure Sprengkraft ausging. Es waren (unter anderem) die Bilder vom Bürgerkrieg im Park, die Stefan Mappus das Amt des Ministerpräsidenten kosteten.

 

Jetzt, pünktlich zum ersten Jahrestag, ist der 30. September auch im Theater angekommen. Mit einem Stück, das exakt so heißt, lapidar „30. September“, eröffnet das Schauspiel seine neue Saison – programmatisch, versteht sich. Wie in früheren Jahren wollen Hasko Weber und der Chefdramaturg Jörg Bochow wieder Theater für die Stadt machen und sich mit unerschrockenen Inszenierungen in aktuelle, noch immer brodelnde Stadtpolitik einmischen. Das ist nicht neu – neu und überraschend ist vielmehr, dass mit den ästhetischen Interventionen zu Stuttgart 21 und verwandten Themen nicht der notorische Theaterrebell Volker Lösch beauftragt wird, sondern der notorische Theaterpriester Ulrich Rasche. Und wer Rasches frühere Stuttgarter Arbeiten kennt, etwa die „Kirchenlieder“, der ahnt, dass sein Künstlerblick auf den 30.September ganz besonders ausfallen wird: nicht löschhaft aufgeregt und agitierend, sondern streng liturgisch, höchst artifiziell und, je nach Gusto, todlangweilig.

Von Blut, Schweiß und Tränen, die an jenem „schwarzen Donnerstag“ in Strömen flossen, ist in der Werkhalle jedenfalls nichts zu sehen. Stattdessen gewahrt man ein gewaltiges Schachbrett, das von einer Scheinwerferbatterie mittels Lichtflächen auf den Boden gezaubert wird. Über dieses Schachbrett schreitet nun hundert Minuten lang das Personal derart ernst und feierlich, dass zur perfekten Messe nur noch Myrrhe und Weihrauch fehlen. Das also ist der Theatergottesdienst, den man sieht und (fast auch) riecht in jenem schummrigen Raum, den Rasche am Reißbrett selbst entworfen hat – entworfen und gebaut mit einer Pedanterie, die ans Sterile grenzt und sich auch auf die Choreografie überträgt, die er seinen achtzehn, für dieses Projekt speziell gecasteten Schauspielsängern verordnet hat. Ihre Körper sind willenlose Roboter in einem Spiel, dessen Dramaturgie sich erschließt, wenn zum Sehen und Riechen auch noch das Hören kommt.

Das halbe Abendland wird zitiert

Und spätestens dann merkt man: das Konzept, das der Dramaturg Bochow von seinem Regisseur Rasche bis auf den Millimeter genau exekutieren lässt, ist mehr als fragwürdig. Das hängt mit dem Textkorpus zusammen, den die beiden Herren für ihren „30.September“ zusammengestellt haben. Gelehrt, wie er ist, könnte er als theoriegrauer Reader für einen Grundkurs in Staatsphilosophie durchgehen. Auf Thomas Hobbes folgen John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Henry David Thoreau, Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist – das halbe Abendland wird also zitiert und deklamiert, um weite inhaltliche Bögen schlagen zu können. Diese Bögen führen von der Staatsgründung über die Staatsgewalt hin zu den Freiheitsrechten des Individuums, das im Notfall nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht hat, dem Missbrauch der Staatsgewalt mit Widerstand zu begegnen – Exkurse, die so breit sind, dass sie die ebenfalls auftauchenden Zitate von Stefan Mappus, Rüdiger Grube und Dietrich Wagner beinahe erdrücken. Ist das schlimm?

Nein, ist es nicht. Bei genauerem Betracht entpuppen sich Mappus, Grube und Wagner – er ist das prominenteste Opfer des „schwarzen Donnerstags“ – nur als Alibifiguren, die dieses so spröde wie schwüle Theaterseminar wenigstens lose an den titelgebenden 30.September anbinden sollen. Und die locker assoziative Verknüpfung reicht Bochow & Rasche ja auch vollkommen aus, denn nicht dem konkreten Tag gilt ihr wahres Interesse, sondern seinen abstrakten Folgen. Also halten sie’s mit Geißler und Kretschmann und stellen die derzeit virulente Gemeinschaftskundefrage: Wie muss eine Demokratie aussehen, die tatsächlich den Willen der Bürger vertritt? Klar, die Frage ist überaus legitim, allein, sie berührt den wuchtigen Stücktitel nur noch am Rande.

Dass es sich beim „30.September“ also um einen kleinen Etikettenschwindel handelt – geschenkt. Schwerer ins Gewicht fällt dann schon, dass sich das Inszenierungsteam mit diesem Schwindel überhaupt keinen Gefallen tut. Im Gegenteil, Bochow & Rasche tappen in eine Falle, die sie sich – gedankenlos? – selbst gestellt haben. Die Bilder und Erinnerungen, die sie mit der Chiffre „30. September“ abrufen, all die Schlagstöcke, Wasserwerfer und Pfeffersprays, all die schreienden Schüler und Rentner, eingekesselt von schwarz uniformierten Polizisten – diese erschütternden Gewaltszenen haben sich vermutlich so tief ins Gedächtnis des Publikums eingegraben, dass nur schwer dagegen anzuspielen ist. Das ist das eine. Und das andere: wenn man schon dagegen anspielen muss, dann eignet sich das Theater von Rasche am allerwenigsten für dieses Bilderduell. Sinnliches und Handgreifliches ist nicht die Sache dieses Regisseurs. Er neigt dazu, mit seiner überzüchteten Ästhetik reale Ereignisse derart fein zu sublimieren, dass nichts mehr von ihnen übrig bleibt – ein Verlust, der in der Werkhalle auch noch in seiner banalsten Spielart zu vermelden ist. In den staatstragenden und staatszersetzenden Textkorpus haben Bochow & Rasche auch „Protestsongs“ eingestreut, Lieder und Arien von John Lennon bis Giuseppe Verdi, alle in ein barockisierendes und nervendes Minimal-Music-Gewand gekleidet. Und weil, wenn geredet wird, gleichzeitig auch mit zierlicher Kunststimme gesungen wird, geht das Textverständnis sehr häufig flöten, häufiger jedenfalls, als es dem Chorprojekt gut tut. Bei Ulrich Rasche erschlägt die Form jeden Inhalt. Selbst den „30. September“ bringt er zum Stuttgarter Saisonauftakt rückstandslos zum Verschwinden.

Weitere Vorstellungen: Täglich bis zum 30. September, jeweils um 20 Uhr.