Mit noch mehr PS als sonst tanzte das Stuttgarter Ballett in Morgann Runacre-Temples Uraufführung „Averno“. Foto: tuttgarter Ballett/Roman Novitzky
Wir schauen auf die eben abgelaufene Saison des Stuttgarter Balletts: Welche Stücke, welche Choreografinnen und Choreografen gab es zu entdecken? Was hätte niemand vermisst?
Mit fünf Uraufführungen, drei davon von hier bislang unbekannten Tanzschaffenden, platziert Intendant Tamas Detrich in seinem fünften Jahr das Stuttgarter Ballett wieder unter den Kompanien, die risikofreudig Neues wagen. Das Interesse des Publikums ist auch deshalb groß, weil die Stuttgarter derzeit in Topform auftreten. Nachwuchsstars wie die verblüffende Mackenzie Brown und Henrik Erikson lassen selbst an altbekannten Werken wie Crankos „Schwanensee“ neue Facetten entdecken. Und die weißen Akte waren bereits bei der Wiederaufnahme im April blitzblank, der Applaus gilt auch der neuen Ballettmeisterin Elizabeth Toohey.
Auffallend viele verließen die Kompanie zum Ende der Saison. Stimmt die Stimmung? Jede Vorstellung setzt Zeichen einer starken Gemeinschaft; nicht nur Weltstar Friedemann Vogel fühlt sich hier seit 25 Jahren wohl. Auch andere wie Elisa Badenes, Jason Reilly, Anna Osadcenko oder David Moore tragen treu zum Erfolg bei. Dem bestens interagierenden Kollektiv schaut man selbst dann gern zu, wenn ein Choreograf nicht ganz den Ton trifft. Womit wir beim Ballettabend „Novitzky/Dawson“ und gleich auf der Minusseite dieser Bilanz wären.
Dawsons „Symphony No. 2“ mit Anna Osadcenko und Clemens Fröhlich Foto: Stuttgarter Ballett/SB
Dass Tamas Detrich mit David Dawson einen Choreografen eingeladen hat, der zu neoklassischem Showtanz tendiert, will nicht zum Image des Stuttgarter Balletts passen, das selbst in Klassikern nach dem forscht, was Menschen bewegt. „In Erinnerung an John Cranko“ lautet zwar die Widmung von „Symphony No. 2: Under the Trees’ Voices“. Doch überdehnte Posen, die Fülle an Hebungen, die Tänzerinnen wie Galionsfiguren ausstellt, wollen vor allem schön aussehen; Begegnungen fehlt so das emotionale Potenzial. Dawson gibt seinen 14 Tänzerinnen und Tänzern zwar viel virtuoses Futter – leider besteht es aus leeren Kalorien.
Szene aus Roman Novitzkys „The Place of Choice“ mit David Moore Foto: Stuttgarter Ballett/SB
Mutiger wäre beim Doppelabend im Opernhaus ein Bekenntnis Detrichs zu seinem Artist in Residence gewesen – schließlich machte solches Vertrauen einst Spucks „Lulu“ und Volpis „Krabat“ möglich. „The Place of Choice“, Roman Novitzkys von Dante inspirierter Höllentrip, hatte das Zeug zum Abendfüller, zumindest was Optik und Dramaturgie betrifft. Hätte sich der Choreograf unter anderen Bedingungen lockerer ans Werk gemacht? Vielleicht.
So wollten sich Bewegungen nicht recht zu Tanz fügen, den groß besetzten Gruppen fehlte die Energie für Gänsehautmomente. In Erinnerung bleibt vor allem David Moores beeindruckende Performance, in der er sich vom Akteur zum Manipulierten wandelt.
Nicht Bühne für arrivierte Choreografen, sondern Talentschmiede zu sein, passt besser zum Stuttgarter Ballett. Werden aus den einst Geförderten dann Stars, kommt ein Abend heraus wie „Shades of Blue and White“, der im Februar Premiere hatte. Ein Fremdkörper darin schien der „Schattenakt“ aus Makarovas „Bayadère“. Auf den zweiten Blick bildete er einen idealen Hintergrund, um „Blake Works I“, Bill Forsythes altersmilde Liebeserklärung an die Altmeister seiner Kunst, ins beste Licht zu rücken. Wie er klassische Virtuosität zeitgemäß abwandelt, setzen die Stuttgarter ziemlich lässig um. Und fürs nächste Wiedersehen mit Uwe Scholz wünscht man sich mal nicht seine „Siebte Sinfonie“, auch wenn sie immer wieder verblüffen kann.
Tanz mit Tisch bot Samantha Lynchs Uraufführung. Foto: Stuttgarter Ballett/SB
Einfühlungsvermögen in Stuttgarter Stärken zeigten die Gäste Samantha Lynch und Morgann Runacre-Temple, die neben der Stuttgarter Halbsolistin Vittoria Girelli den neuen „Creations“-Abend im Schauspielhaus zu Beginn der Spielzeit bestückten. Dem Damen-Trio glückten Uraufführungen mit Potenzial, was die Übernahme des zentralen Duetts aus Lynchs „Where Does the Time Go?“ als Gala-Stück unterstrich. Die Lebensreise eines Paars, mit Höhen, Tiefen und von Freunden begleitet, fassten fünf Tänzer und drei Tänzerinnen rund um einen Tisch bewegend zusammen.
Elisa Ghisalberti und Edoardo Sartori in „Sospesi“ Foto: Stuttgarter Ballett/SB
In Runacre-Temples „Averno“ tobte das Familiendrama trotz antiken Personals, von Live-Kameras in Telefonhäuschen und Pkw-Fond verfolgt, mit gegenwärtigem Impuls, wobei man dem Tanz mehr Raum gewünscht hätte.
Vittoria Girelli erfüllte ihm dafür in „Sospesi“ jeden Wunsch. Mal schwebend, mal erdverbunden löste er sich von allem Ballast und machte Lust auf ein Wiedersehen, das die nächste Saison beim Ballettabend „Nacht/Träume“ prompt bietet.
Saisonbilanz Staatstheater Es folgen in den nächsten Tagen die Saisonbilanzen des Schauspiels Stuttgart und der Staatsoper Stuttgart.
Die Beilagen: Drei Erfreulichkeiten und eineinhalb Ärgernisse
Treu Auf einer Wolke guter Nachrichten schwebt das Stuttgarter Ballett in die Sommerpause. Pünktlich zur elften Neuauflage von „Ballett im Park“ hat Porsche seinen seit 2012 bestehenden Vertrag als Hauptsponsor der Kompanie um drei Jahre verlängert. Das kostenfreie Kulturerlebnis im Park ist Porsche-Vorstand Andreas Haffner ein Anliegen. „Wir bringen Menschen zusammen und schaffen Momente des Miteinanders. Gerade in der heutigen Zeit ist dies wichtiger denn je.“
Topp Nicht nur beim Gratis-Openair am Eckensee war jeder Platz gefüllt. Mit einer Auslastung von 99 Prozent war das Ballett auch drinnen die begehrteste Staatstheater-Sparte. Mehr Publikum könnte die Kompanie bei der gleichen Zahl an Vorstellungen nur erreichen, wenn man dem Opernhaus einen Rang draufsetzte. Doch Spaß beiseite: Schon die Sanierung des Bestands ist Herkulesaufgabe genug.
Team In Mannheim wird bereits gebaut. Dass Ballettintendant Tamas Detrich die Bühne für vier Vorstellungen seinem Kollegen Stephan Thoss und dessen sanierungsgeprüftem Nationaltheater-Ensemble überließ, ist ein Akt der Solidarität, der zu Recht Anklang und Beifall des Publikums fand.
Turbo Schnell sind nicht nur die Sportwagen, die Ballettsponsor Porsche ab und an werbewirksam, aber nicht zur Freude aller im Schlossgarten parkt. Sehr flott unterwegs war auch das Staatsorchester unter Ballettdirigent Mikhail Agrest, so flott, dass sich manche im Publikum um das Wohl der dazu Tanzenden sorgten. Ihre Stoßgebete halfen: In „Schwanensee“ ging dann nur Prinz Siegfried unter.