Die Vernunft schläft: In seinem neuen Roman wirbelt Salman Rushdie Mythen und Wirklichkeit durcheinander.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Frankfurt - Manche Geschichten enden nie. 1989 forderte der bereits im Sterben liegende Ajatollah Chomeini „das stolze muslimische Volk der Welt“ auf, den Autor der „Satanischen Verse“ nebst allen an der Verbreitung des Buches Beteiligten hinzurichten, „wo immer sie auch sein mögen“. Dieser Bannspruch machte aus einem erfolgreichen britischen Schriftsteller mit indischen Wurzeln eine fiktive Existenz, die in der realen Welt bedroht, verfolgt, gejagt sicheres Obdach einzig noch in der Literatur fand. Wenn also Salman Rushdie an diesem Dienstagabend unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen die Frankfurter Buchmesse eröffnet, stoßen ebenjene beiden Welten zusammen, von deren großem Entscheidungskampf sein neuer Roman „Zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Tage“ handelt: die Welt der Fantasie und die der Wirklichkeit.

 

Wie gerne würde man die Nachricht, dass der Iran wegen Rushdies Auftritt seine Teilnahme an der Buchmesse abgesagt hat, für eine Intervention aus dem Märchenreich Peristan halten, von dem der Autor erzählt. Und vielleicht stimmt es ja, vielleicht stecken hinter den langen Bärten, deren Religionsgefuchtel wie durch ein Wurmloch Vergangenheit und Gegenwart verbindet, in Wirklichkeit einfach nur dunkle Dschinns.

Nur die Furcht bringt dich zurück zu Gott

So heißen die Dämonen, die Peristan mit ihren staunenswerten Fähigkeiten bevölkern. Zu ihren staunenswertesten gehört ein enormes sexuelles Leistungsvermögen, so dass der Philosoph Ibn Ruschd, in dessen Verstand sich einst die Dschinn-Prinzessin Dunja unsterblich verliebt hat, nur durch Erzählen ihre körperliche Inbrunst etwas zu dämpfen vermochte. Von Ibn Ruschd, wie der arabische Name des im Andalusien des 12. Jahrhunderts wirkenden Aristoteles-Übersetzers Averroes lautet, hat Rushdies Vater einst den Familiennamen übernommen. Er steht für Vernunft, Logik, Fortschritt, vor allem aber für die Befreiung der Philosophie aus den Fesseln der Religion. Sein Gegenspieler ist der Perser Ghazali von Tus, Stammvater wiederum aller Fatwa-Schleuderer und Eiferer im Namen göttlicher Allmacht. Sein Kredo ist die Furcht: nur sie bringt die sündigen Menschen zurück zu Gott.

In Rushdies neuem Roman bilden die beiden eine Paarung, ähnlich der des Humanisten Settembrini und des Dunkeldenkers Naphta in Thomas Manns Zauberberg. Auch als sie längst zu Staub zerfallen sind, schwelt ihr Streit weiter. Wie es genau dazu kommt, dass die beiden auch im   Märchenreich Parteigänger finden, muss man der Erzählkunst Rushdies überlassen, jedenfalls öffnet sich in einer allgemeinen Krisenzeit Jahrhunderte später wieder ein Durchlass zwischen beiden Reichen, die Dschinns sind los, die Zeit der Seltsamkeiten beginnt.

In dieser Phase, die so lange währt wie die im Titel genannte Frist, zwei Jahre, acht Monate und achtundzwanzig Nächte, mit anderen Worten tausendundeine Nacht, steht ein ungewöhnlich intelligenter Mann mit leicht abstehenden Ohren und vielen guten Eigenschaften an der Spitze der Vereinigten Staaten. Doch auch er kann nicht verhindern, dass die Ordnung aus den Fugen gerät und die Realität aufhört, nach rationalen Gesetzen zu funktionieren.

Das Klima spielt verrückt, das Finanzsystem kollabiert, durchgeknallte paramilitärische Parasiten-Dschinns fahren in Panzern durch Osteuropa und holen Passagierflugzeuge vom Himmel. Die USA und Israel stehen vor einem Krieg gegen China und Russland, und ein Mob von Gläubigen arbeitet an der Errichtung eines weltumspannenden Dschinn-Sultanats, begleitet von einer internationalen Orgie von Enthauptungen, Steinigungen, Kreuzigungen.

Geschichten aus tausendundeiner Nacht

Wir kennen dergleichen aus tausendundeiner „Tagesschau“, jetzt wissen wir auch, was dahintersteckt: es ist ein Krieg der Welten, zwischen hellen und dunklen Dschinns, zwischen den Abkömmlingen Ibn Ruschds und denen Ghazalis, zwischen Realitätssinn und Ausgeburten der Fantasie, zwischen Vernunft und Irrationalismus. Rushdie träumt wie Sheharazade den alten Traum, das mörderische Grauen mit Geschichten zivilisieren zu können, und zieht dafür alle Register: Orientalische Märchen, Bulgakow, Graphic Novels, Actionkino wirbeln in dem Roman so durcheinander wie die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen im Bewusstsein seiner Protagonisten. Wie ja überhaupt zum Bittersten des eigentümlichen Schicksals dieses Autors zählt, dass er gerade die Lebensrealität jener von Migration geprägten Kreise widerspiegelt, die am lautesten zum Hass gegen ihn aufgestachelt wurden.

Das Problem dieses Schriftstellers

Am Ende siegt die Vernunft, das Irrationale zieht sich wieder in die Träume zurück, wo es hingehört. Und so sehr Rushdie den Irrsinn, der sich in unserer Zeit der Seltsamkeiten austobt, auf dunkle Mächte projiziert, lässt er doch keinen Zweifel daran, dass sie letztlich ihre Ursache in uns selbst hat: Die Schlacht gegen die Dschinns ist das fantastische Pendant zur Schlacht im menschlichen Herzen.

Doch es ist ein Problem engagierter Literatur, dass sie die Lust am Erzählen zum Vehikel für respektable Überzeugungen und Botschaften nutzt, so wie die Dschinns Amphoren zweckentfremden, um auf ihnen durch die Lüfte zu rauschen. Und so gilt für dieses Buch in umgekehrter Weise selbst, was es in Superheldenmanier an unserer Gegenwart exekutiert: es ist besessen, zwar von keiner dunklen Macht, doch von seiner eigenen Mission. Sein literarisches Eigenleben wird ausgesaugt von der nachvollziehbaren guten Absicht. Und so sehr es am Ende die Notwendigkeit der Träume und Geschichten beschwört als Gegenüber einer rationalistisch befriedeten Welt, so sehr ist es selbst ein Beweis für die schwierige Koexistenz beider Sphären. „Unsere Fiktionen bringen uns um, aber wenn wir sie nicht hätten, würde uns das vielleicht auch umbringen.“

Im schlimmsten Fall ist dies der eigentliche Fluch, den Ghazali und seine späteren Handlanger bis heute über die Bedrohung von Rushdies Leib und Leben hinweg vollstrecken: dass sie seinem Schreiben einen Zwang zur Legitimation auferlegt haben, unter dessen Last es erstickt. Und je mehr er sich in lärmend-leichten Action- und Comic-Attitüden davon zu befreien sucht, umso fühlbarer wird das Gängelband, an dem ihn seine Widersacher führen. Sie zwingen ihm eine Rationalität auf, unter der Peristan erstickt. Welch infame List!

Nein, anders als im guten Ende des Romans vorgezeichnet, ist der Streit zwischen Ibn Ruschd und Ghazali noch lange nicht beigelegt. Der Boykott des Iran ist eine der Seltsamkeiten, die darauf deuten, ebenso wie die Wunden und Schwächen, die der andauernde Konflikt diesem so versöhnungsbereiten Buch geschlagen hat.