Salman Rushdies neuer Roman „Golden House“ entfacht den Weltenbrand. Er zeigt, wie Amerika, strotzend von Paranoia, Scheinheiligkeit, Gewalt und Vulgarität die Realität hinter sich lässt – und ins Universum des Comics überläuft.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Der Grenzverkehr an der Schwelle von Fiktion und Wirklichkeit ist das Lebensthema von Salman Rushdie. Wie bedrohlich die Folgen eines Buches in der Wirklichkeit ausschlagen können, musste er am eigenen Leib erfahren, seit er für seine „Satanischen Verse“ mit einer Todes-Fatwa belegt wurde. Aus einem erfolgreichen britischen Schriftsteller mit indischen Wurzeln wurde von jetzt auf nachher eine fiktive Existenz, von Wohnsitz zu Wohnsitz gejagt, ruhelos, verfolgt von Anfeindungen aller Art. Gleichzeitig lebt in jedem seiner Romane der Traum, die mörderische Wirklichkeit durch Erzählen zivilisieren zu können. Und es sind zumeist Geschichten, in denen sich die lichten, wahren Lügen der Literatur gegen die dunklen, bösen der Macht, der Politik, der religiösen Eiferer behaupten.

 

Nieallerdings, selbst in Zeiten akutester persönlicher Bedrohung nicht, war die dualistische Ordnung, aus der Rushdies Schaffen seine Kraft bezieht, solchen Anfechtungen ausgesetzt wie in dem anhebenden postfaktischen Zeitalter. Als hätte sich in den leichtsinnigen postmodernen Spielen mit Wirklichkeit eine Schleuse geöffnet, die sich die Gegner und Widersacher der Vernunft zunutze machen; als wären die Mittel der Fiktion in falsche Hände geraten und dienten nun nicht länger, hoffnungsvoll über das Bestehende hinaus zu denken, sondern nurmehr, es zu zerstören.

So richtet sich Rushdies jüngster Roman „Golden House“ gleich in mehrfacher Weise gegen die Feinde im eigenen Haus. Er erzählt von der Vorherrschaft des Unwirklichen über das Wirkliche am Beispiel eines indischen Immobilienmoguls, der sich mit seinen drei Söhnen vor den Geistern seiner Unterweltsverstrickung in eine neue New Yorker Upper-Class-Identität flüchtet; er erzählt, wie Amerika, strotzend von Paranoia, Scheinheiligkeit, Gewalt und Vulgarität die Realität hinter sich lässt, ins Universum des Comics eintritt und einen grusligen Joker mit weißer Haut und blutigen Lippen zum Präsidenten macht; und er erzählt vom Erzählen selbst, wie sich die Wirklichkeit in der Fiktion spiegelt. Denn in Wirklichkeit ist „Golden House“ gar kein Roman, sondern das Drehbuch zu einem Dokumentarfilm, der freilich mit den Fakten ziemlich frei umgeht, und den Beobachter zunehmend zum Teil des Geschehens werden lässt.

Gefangen im falschen Geschlecht

Nichts ist hier einfach, alles glitzert voller Anspielungen. „Nennt mich René“, führt sich der Erzähler ein, Referenz an den ersten Satz von Herman Melvilles Monumentalroman „Moby Dick“, der die Summe seiner Epoche gezogen hat. Und wie dieser ist auch „Golden House“ durchzogen von einer Flut mythologischer und philosophischer Exkurse, wobei der Filmemacher René nahezu die gesamte Kinogeschichte in seiner Erzählung versenkt. Nero Golden, wie sich jener mafiöse Immobilien-Tycoon in einer Wahlverwandtschaft zu spätrömischer Lebensart nennt, streicht zum Untergang seiner Familie eine Guadagnini-Geige, wie der namengebende Kaiser die Lyra beim Anblick des brennenden Roms. Seine Söhne haben sich nach der Übersiedelung oder Flucht in die USA gleichfalls nach antiken Motiven neu erfunden: Petya-Petronius, hochbegabt und phobisch zugleich, Apu-Apuleius, ein von Visionen heimgesuchter Künstler-Junkie, D-Dionysos, im falschen Geschlecht gefangen, von der identitätspolitischen Orthodoxie seiner Freundin in den Selbstmord getrieben. In einer Welt der Fälschung und radikalen Unwahrheit wird die Frage der Identität zum Katalysator des Unheils.

Im Hortus Conclusus eines gehobenen Wohnviertels knüpft der Erzähler René enge Bande zu diesen gebeutelten Vertretern einer Jeunesse dorée um den alten Kaiser – trotz seiner Verbrechen eine Art King Lear. René wird zum Vertrauensmann der Familie und findet in ihr zugleich den Gegenstand seines ersten großen Films. Nach und nach gerät er in den Bannkreis ihrer Geheimnisse, Leidenschaften, Eifersüchteleien. Durch die Intrigen von Goldens Zweitfrau, einer Art Lady Macbeth mit osteuropäischem Playmate-Hintergrund – kaum älter als ihre Stiefsöhne – wird René vom Zeugen zum Erzeuger jener Geschöpfe, über die er berichtet.

Und genau diese Verstricktheit trennt den Roman von einer wohlfeil-knalligen Society-Horror-Show. René entdeckt, dass die Fragen, an denen die Golden-Söhne scheitern, dieselben sind, die auch ihn umtreiben: der Wunsch, hinter die Oberflächen zu blicken, mit der eigenen Zweideutigkeit ins Reine zu kommen und frei von Angst zu werden. Oder weniger fabula-docet-optimistisch formuliert: Er erkennt sich selbst als Teil dieser auf ihren Untergang zutreibenden Gesellschaft.

Die Entfesslung der Lüge liefert ein getreues Abbild der Wirklichkeit

Man könnte die Schlagworte nennen, in denen die Ära dessen, der sich hinter der Joker-Maske verbirgt, katalogisiert wird: Fake News, Gender Trouble, die Drift von emanzipatorischer Identitätspolitik zum faschistischen Zerrbild des Identitären. Wer durch dieses „Golden House“ streift, ist auf der Höhe der Diskurse unserer Zeit. Und doch ist die eigentümliche Pointe dieses Romans, dass er sein getreues Abbild der herrschenden Verhältnisse gerade aus der Entfesselung der Lüge, der Maskerade, des Spiels mit doppeltem Boden gewinnt. Die Wahl des Jokers zum Präsidenten besiegelt die Verwandlung Amerikas in eine moderne düstere Graphic Novel: „voll schwarzer Verbrechen und abtrünniger Juden und Schwanzlutschern und Mösen, was Worte waren, die er manchmal gerne benutzte, nur um die liberale Elite vor Wut zum Schäumen zu bringen.“

Dass die von sich selbst entfremdete Menschheit ihren Untergang in ästhetischen Formen goutiert, war für den Kulturphilosophen Walter Benjamin, inspiriert vom noch jungen Kino, ein Merkmal des aufziehenden Faschismus. Mit der Inthronisation einer Kunstfigur im Herzen der Macht zeigt Rushdies großer, durch die Filmgeschichte schweifender Roman, was die Stunde geschlagen hat: „Amerikas geheime Identität war nicht ein Superheld. Es stellte sich heraus, dass es ein Superbösewicht war.“

In diese apokalyptische Flucht, die posttraumatisch gestörte Afghanistanveteranen als Unheilspropheten säumen, setzt Rushdie seine Geschichte vom Untergang des Hauses Golden. Sie ist vollgesogen mit dem hochentzündlichen Stoff der Gegenwart. Ein Funke, und sie steht in Flammen, um ein Licht auf die Tragödie der laufenden Ereignisse zu werfen.