Sebastian Baumgarten zeigt im Stuttgarter Schauspielhaus „Salome“ nach Oscar Wilde und Einar Schleef. Der Abend hat Kraft und Wucht und steht ganz im Zeichen des Monds, gibt aber doch eine Menge superintellektueller Rätsel auf.

Stuttgart - Sebastian Baumgarten liebt das Vorspiel auf dem Theater. Diese Neigung kennt man bereits, schließlich ist der aus einer Ostberliner Künstlerfamilie stammende Regisseur in Stuttgart kein Unbekannter mehr. Schon unter Hasko Weber hat er im Schauspielhaus gearbeitet – und was er damals mit seinen Distanz schaffenden, hochintellektuellen Vorreden begann, setzte er unter Armin Petras fort. Brechts „Dreigroschenoper“ eröffnete er vor vier Jahren also nicht kulinarisch mit der „Moritat von Mackie Messer“, sondern akademisch mit Sätzen des Philosophen Giorgio Agamben, vorgetragen von drei Männern mit Gorillamasken. Dass diese Menschenaffen klüger waren als die „humanoiden Kleinbürger“, die hernach slapstickhaft über die Bühne purzelten, war klar wie das Mondlicht, das jetzt nicht ganz zufällig auf die „Salome“ scheint. Als Vorredner tritt nämlich auf: ein Mann der Nasa, der sich mit Monden von Berufs wegen auskennt.

 

Unser Nachbarplanet spielt tatsächlich eine Rolle in der Fin-de-Siècle-Tragödie, die Oscar Wilde 1891 geschrieben und der Theaterregisseur Einar Schleef 1997 bearbeitet hat. Er hat das mit der Heftigkeit getan, für die er berühmt war, doch mit dem Mond hatte selbst der 2001 verstorbene Berserker Mitleid. In seinem Wilde-Update steht er noch immer hoch und gespenstisch über dem Palast des Herodes in Jerusalem und übt eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf alle aus, die ihn mit oder ohne Schutzbrille schauen. Dazu gehört auch Prinzessin Salome: In dieser einen, sonderbaren Nacht, in der ihr Vater mit Gesandten aus Rom feiert, fordert sie den Kopf von Johannes dem Täufer. Sie bekommt ihn auf einem Silbertablett – und das Bild des bluttriefenden Männerkopfes hat sich nicht nur in die abendländische Ikonografie eingebrannt, sondern enthält im Kern auch schon die ganze Dramenhandlung. Aber was hat der Mond mit der biblischen Enthauptung zu schaffen?

Der Nasa-Mann nimmt den Umweg

Im Schauspielhaus verdammt viel: Auf einer in der Höhe aufgespannten Leinwand ist unser kleiner kosmischer Nachbar dauerpräsent. Aufnahmen aus dem All zeigen ihn in allen Farben, gerne blutrot, aber vor allem als handfest physische Erscheinung, in die das Jerusalemer Party- und Palastvolk trotzdem unentwegt metaphysische Sehnsüchte projiziert. Dass es damit falsch liegt, macht der Vorredner in Nasa-Uniform dem Publikum klar. Das Whisky-Glas cool in der Hand schwenkend, nimmt er allerdings einen argumentativen Umweg und hält keinen Vortrag über Astronomie, sondern – Schleefs Prolog zitierend – über Salome, das Christentum und andere verbohrte Ideologien. „So sieht das der Stoffgeber: die Bibel“, sagt der spielerisch blasse Felix Mühlen, „das männliche Christentum braucht das weibliche Opfer, es ist dessen Fundament. Unterm Kreuz windet sich die Schlange. Und seien wir mal ehrlich: So ‘ne Schlange schaut man sich doch gerne an.“

Nichts gegen mit biblischen Metaphern gespickte Religionskritik, aber ist das Opfer in der „Salome“ nicht männlich? Und warum geht der verblüffende Umkehrschub hier ausgerechnet von einem Mann aus, der den Kosmos gewiss besser kennt als die Bibel? In Baumgartens intellektuellem Lehrtheater, das vermutlich streng materialistisch Glaubensfragen untersuchen will, häufen sich Fragen über Fragen – und dass wenigstens der schlaue Regisseur die Antworten weiß, steht ebenfalls zu vermuten. Er hat sie nur verdammt gut versteckt, der Herodes-Methode folgend: „In jedem Ding ein Geheimnis. Überall Hintersinn, Doppelbödigkeit, alles ist dreifach auszulegen“, sagt der verstörte Herrscher, als er das „Rauschen von Flügeln“ in der Luft hört.

Zitate, dreifach auszulegen, wohin man schaut

Woher die übersinnlichen, auf der Bühne sich akustisch manifestierenden Phänomene rühren, ahnt man: von der Anwesenheit des Propheten Johannes, der von Herodes zwar in der Tiefe einer Zisterne gefangengehalten wird, aber von dort trotzdem die Ankunft des neuen Herrn predigt. Dann erbebt auch zuverlässig die steinige Erde vor dem King-David-Hotel, dessen Fassade Thilo Reuter ins Schauspielhaus gestellt hat. Darin der Palast des Herodes, auf einer Art Tempelberg, der rechts und links von Prospekten armseliger Hütten und Ställe flankiert wird und natürlich von der Mondleinwand: Zitate, dreifach auszulegen, wohin man auch schaut, vor allem in der deftig überbordenden Inszenierung selbst. Changierend zwischen Ernst und Ironie, bedient sich Baumgarten des hohen Tons und der berlinernden Schnoddrigkeit, des Trashs und der Parodie, den Mustern aus Hollywood und den Mitteln des expressionistischen Stummfilms. Nur: stumm ist in seiner phonstarken „Salome“ niemand.

Am Hof des Herodes herrscht dekadente Dauerekstase. Nicht in ihrer gehauchten, geflüsterten, geraunten Form, sondern in der schreienden, kreischenden, brüllenden, donnernden Glücksschmerzvariante des pausenlosen Außer-sich-Seins. Die römischen Gäste umschmeichelt der Herrscher von Judäa mit einer Orgie, die sich in Wein, Pisse und Sperma gewaschen hat. Wenn sich das Palasttor öffnet, dringt höllischer Lärm nach außen und ebensolches Bodenpersonal: Horst Kotterba, Christian Czeremnych und der sehr präsente Sebastian Röhrle. Mit Glatze, Langhaar und Irokesenfrisur, Röcken und umgeschnallten Waffen ist das Trio infernal einer Blockbuster-Fantasy-Dystopie vom Schlage eines „Mad Max“ entlaufen. Und irgendwann, dem Gelage drinnen überdrüssig, lässt sich draußen auch die Schlange blicken, die man so gerne anschaut: Salome, die grandiose Julischka Eichel.

Salome, die schöne Schlange

Eichels Prinzessin ist eine pubertierende Göre an der Grenze vom Mädchen zur Frau. Zwischen Unschuld und Kalkül, Trotz und Rotz durchmisst ihre tatsächlich mephistophelisch schlangenhaft sich windende Salome die Gefühlslandschaften einer Außenseiterin, die ihre Freiheit bis zum Äußersten treibt, also zur Willkür. Was verboten ist, das macht sie grade scharf – der Regelverstoß als Aphrodisiakum, was indes auch für ihren Stiefvater gilt, den von Thomas Wodianka sprachmächtig, aber körperfaul gespielten Herodes. Er hat mehr als nur ein Auge auf sie geworfen, auch der Unterleib ist im Rennen, was Herodias, seine Frau, zu beweisen versteht. Astrid Meyerfeldt zieht Wodianka die Hosen runter und liest dem baumelnden Gemächt die Leviten. Doch alles meyerfeldtsche Outrieren hilft nichts: Herodes verfällt dem Schleiertanz der Salome, den Baumgarten – die Frau als Projektionsfläche – als Film auf ihren transparenten Umhang werfen lässt. Ihr Lohn für den Strip: das Haupt des Johannes, zuvor gespielt von Paul Grill.

Wie Julischka Eichel hat auch Grill in dieser Saison schon Bekanntschaft gemacht mit der Bibel. In Kay Voges „1. Evangelium“ verkörperte sie Jesus und er den Regisseur, der das Leben Jesu verfilmt – und heraus kam eine fulminante Auseinandersetzung mit dem Matthäus-Evangelium, das dessen ganze Sprengkraft freisetzte. Nun ist es nicht so, dass Sebastian Baumgartens mondsüchtige „Salome“ keine theatralische Kraft hätte. Aufgespannt zwischen Physik und Metaphysik, Polytheismus und Monotheismus, Hedonismus und Apokalypse, Begehren, Liebe und Tod setzt sie massenhaft Spielenergie frei. Man weiß nur nicht immer, zu welchem Zweck sie wohin fließt. Selbst wenn man sie dreifach auslegen würde, bliebe ihr Erkenntnisziel vermutlich ein Mysterium von fast schon biblischem Ausmaß.