Brian Mertes und Julian Crouch versprachen bei den Salzburger Festspielen einen neuen Blick auf Hugo von Hofmannsthals „Jedermann“. Doch hinter der fröhlichen Deko bleibt alles, wie es immer war.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Salzburg - Das muss man konstatieren: Der neue „Jedermann“ ist in Österreich Tagesgespräch. Man hört in den Straßenbahnen, Supermärkten und Lokalen ganz normale Menschen darüber reden, dass „ja heuer“ bei den Salzburger Festspielen das Traditionsstück von Hugo von Hofmannsthal neu inszeniert und in den Hauptrollen neu besetzt werde. Die Österreicher beschäftigt das. In einer Quizshow des österreichischen Fernsehens scheitern die Kandidaten an der Frage, auf welchem Kontinent Äthiopien liegt (man tippt auf Europa). Aber sie wissen wie aus der Pistole geschossen, wer jetzt die Buhlschaft spielt: Brigitte Hobmeier. Toll. So ist also Brigitte Hobmeier, Ensemblemitglied bei den Münchner Kammerspielen, in aller Munde. Und von Cornelius Obonya, der neue Jedermann im neuen „Jedermann“, liest man überall lange Interviews. Er gehört zum großen Hörbiger-Schauspieler-Clan. Sein Großvater Attila hat auch schon den Jedermann vorm Salzburger Dom gespielt, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg. Beinahe ewig glückliches Österreich.

 

Der „Jedermann“ steht 1920 am Anfang der Salzburger Festspieltradition. Neben Mozart ist das Stück das wichtigste Kulturgut der Salzach-Stadt, bekannt in aller Welt. In den USA und Australien, in Japan und in Südafrika (und wahrscheinlich selbst in Äthiopien) wissen Menschen, dass es jedes Jahr unter freiem Himmel vor einem großen barocken Dom gespielt wird, dass darin ein reicher Mensch im Angesicht des nahenden Todes plötzlich ganz klein mit Hut wird und dass ungefähr zur Hälfte des Abends und bei wachsender Dunkelheit von vielen Türmen ringsum dunkle Männerrufe durch die Stadt hallen: „Jeeeeedermann!“. Welterbe.

Unbefangener Blick von außen

Bis zum Jahr 2001 wurde der Salzburger „Jedermann“ so gut wie unverändert in jener Fassung gespielt, die Max Reinhardt in den zwanziger Jahren inszeniert hat, in enger Zusammenarbeit mit der katholischen Kirche, der Besitzerin besagten Domes – als ein Stück über eine mühsame, aber letztlich erfolgreiche religiöse Erweckung. Der Münchner Regisseur Christian Stückl bekam dann den Auftrag, die Inszenierung behutsam zu modernisieren. Er hat sein Bestes getan. Aber das Stück ist mächtiger. Für das Ende des Werkes, da Jedermann seine Freude darüber bekennt, gerade noch rechtzeitig in den Schoß der Mutter Kirche zurückgekehrt zu sein, hat Stückl nach eigenem Bekunden nie ein überzeugendes Bild gefunden. Er gab 2012 endgültig auf.

Und so erging der Auftrag für eine „Jedermann“-Neuinszenierung an den US-Amerikaner Brian Mertes und den Briten Julian Crouch, zwei Regisseure, die bisher Straßen- und Puppentheater, Tschechow-Festivals auf dem Land und populäre Off-Opern gemacht haben, aber nach eigenem Bekunden zuvor noch nie Hofmannsthals „Jedermann“ gelesen hatten und auch noch nie in Salzburg gewesen waren. Exakt das war das Kalkül von Sven-Eric Bechtolf, dem Chef des Festspiel-Schauspielprogramms. Er wollte einen frischen, völlig unbefangenen Blick von außen.

Das Erstaunen währt nur zehn Minuten

Und in den ersten zehn Minuten des neuen Salzburger „Jedermanns“ glaubt man auch, diese Rechnung gehe auf. Da zieht die gesamt große Schauspieltruppe gemeinsam auf den Domplatz, begleitet von großen Masken und Figuren, begleitet vor allem von einer wunderbar schräg und irgendwie balkanisch trötenden Musikantentruppe (dem europäisch-amerikanisch besetzten „Ensemble 13“). Da sehen wir dann plötzlich den lieben Gott als kleinen Bub in Lederhosen in einer riesigen rostigen Tröte stehen und über die Menschen klagen, und als Antwort erscheint ein hochgewachsener Tod im weißen Brautkleid und auf seltsamen Schuhen. In diesen zehn Minuten denkt der Beobachter: Ja, so könnte er vielleicht wirklich funktionieren, der unbefangene Blick von außen – indem er uns viele merkwürdige, irritierende, verunsichernde Bilder und Klänge schenkt, die uns dazu verhelfen, die Geschichte und den Text neu zu betrachten.

Aber das Erstaunen währt nur zehn Minuten. Dann hat uns der alte „Jedermann“ wieder. Es ist vor allem der Tonfall der Verse und das Pathos der Schauspieler, an dem die beiden Regisseure entweder nichts ändern wollten oder konnten. Es ist dieses ewige Jedermann-Getöse, erst überheblich, dann vom Tode erschrocken, dann verzweifelt, dann vergeistigt, das hier wohl schon immer zu hören war und das nun auch Cornelius Obonya zwei Stunden lang exerziert, dieses ewige Schreien und Keuchen, Mit-den-Armen-Rudern und zum Schluss hin die Schuhe ausziehen. All das, was irgendwie dem großen Platz geschuldet ist. Aber doch auch dem Überstelzten der Hofmannsthal’schen Verse. Und vor allem dem Glauben der Schauspieler, es gehöre wohl doch an dieser Stelle dazu.

Kein Schauspiel – eine Messe

Dann wieder ein kleiner Moment, da man denkt, holla, jetzt kommt die Waldfee. Auf einem Fahrrad düst Brigitte Hobmeier auf die Bühne, jung und frisch fährt sie um ihren Geliebten herum. Enorme Spannung. Doch dann steigt sie auch schon ab und bekommt lange rote Gewänder verpasst, wedelt mit dem Haar, wedelt mit dem Stoff, schwingt die Beine, verfällt zuverlässig in diesen ewigen zehrenden, zieselnden, girrenden, gurrenden Tonfall der ewigen „Jedermann“-Buhlschaft.

Der angeblich frische Blick von Brian Mertes und Julian Crouch macht den neuen „Jedermann“ letztlich katholischer als zuvor. Ihr Theater präsentiert sich als fröhlich-befreiend naiv. Aber in Glaubensdingen ist Naivität nun mal nur ein Durchgangsstadium und verlässliche Fröhlichkeit ohne vorhergehenden Zweifel nicht zu haben. Alle latent ein wenig fremden, verfremdenden Elemente des Abends, die Masken, die Musik, entpuppen sich als bloße Deko. Der Kern wird so fromm, wie es sich der alte und der neue Papst nur wünschen können. Als die Handlung auf den Glauben zu sprechen kommt, der nötig ist, um beruhigt in den Tod zu gehen, wird der Dom prompt von innen erleuchtet. Und zum Schlussbild läuten die Glocken, so dass die Zuschauer sich gar nicht trauen, zu klatschen, obwohl die Schauspieler schon zum Verbeugen bereit stehen. Es ist eine Messe.

Peter Lohmeyer spielt den Tod, Jürgen Tarrach den Mammon, Johannes Silberschneider den armen Nachbarn, Hans Peter Hallwachs den Glauben, Julia Gschnitzer Jedermanns Mutter. Was für Namen. Das Premierpublikum jubelt zum Abschluss. Dieser „Jedermann“ hält sicher ein weiteres Jahrzehnt. Er ist abwaschbar.