Bei den Salzburger Festspielen gibt die griechische Filmemacherin ihr Regiedebüt auf der Bühne: Frank Wedekinds „Lulu“ verwandelt sie in ein gespenstisches menschliches Bestiarium – mit einer Bildfantasie, die für eine Anfängerin erstaunlich ist.

Salzburg - Man sagt das so dahin: Lulu, die Femme fatale in Wedekinds Melodram, bringe die Männer um den Verstand. Tatsache ist, dass sie vier Ehen hinter sich und vier plus x Männer, die nicht immer ihre Ehemänner waren, auf dem Gewissen hat. Ermordet hat sie aber nur einen davon. Alle anderen fielen der unwiderstehlichen Aura aus Lust und Begierde zum Opfer, die Lulu zu umhüllen scheint, zumindest in der enorm aufgestachelten Wahrnehmung der Männer. Denn sie bringen sich ja, wenn sie der erotischen Kindfrau mit Haut und Haar verfallen, in großer Besessenheit und Selbstverblendung schon selbst um Verstand und Leben.

 

Als Frank Wedekind diese Verhöhnung der bürgerlichen Sittlichkeit veröffentlichte, löste er Skandale aus. Von 1892 bis 1913 arbeitete er, der zuvor der Werbechef von Maggi war, an „Lulu“. Immer wieder musste er sein Drama umschreiben, um der Zensur zu entgehen. Trotzdem beschäftigte das Schauspiel die Gerichte und durfte nur in privaten Aufführungen gezeigt werden. Die öffentliche Uraufführung der Fassung, die wir heute kennen, fand 1950 statt, mehr als dreißig Jahre nach seinem Tod. Heute aber ist das, was in „Lulu“ als Tabubruch empfunden wurde, gängige Münze: Verbrechen und Unzucht, überhaupt der ganze Ruch des Anstößigen und Verbotenen sind als Sex and Crime derart salonfähig geworden, dass man in libertären Zeiten niemandem mehr damit provozieren kann. Trotzdem führt die aus Griechenland stammende, in den USA lebende Athina Rachel Tsangari diesen Klassiker jetzt bei den Salzburger Festspielen auf – freilich völlig zu Recht, wie sich schon in der Eingangsszene mit ihrer stupenden Bildfantasie zeigt.

Über die Bühne auf der Perner-Insel in Hallein, der ausgelagerten Spielstätte des Festivals, kriecht die auf drei Schauspielerinnen verteilte Lulu: Anna Drexler, Isolda Dychauk und Ariane Labed stecken als Spinne mit sechs Beinen unter einer weißen Plane und krabbeln durchs Atelier des Kunstmalers Eduard Schwarz. Im Auftrag von Dr. Goll, Lulus wesentlich älterem Ehemann, soll er ein Porträt der Ehefrau anfertigen. Von der Bühnendecke hängen Dutzende von Kugeln, die schmutziggrau und riesengroß die Aussicht in den Himmel verstellen. Die Kugeln, Globen und Blasen könnten die Hinterleiber der Spinnen sein oder auch die Nester, in die sie ihre Eier wickeln – dazu zischt, faucht und rumort es bedrohlich leise aus dem Off, als wäre die vielgliedrige Spinnen-Lulu obendrein auch eine wilde Raubkatze.

Zartheit und Verletzlichkeit

Doch was sieht der betörte Schwarz? Er sieht das auf ihn zukriechende Weib nicht als widerliches und gefährliches Tier, sondern als „süßes Geschöpf“, vor dessen Schönheit und Anmut er wie vom Schlag getroffen kapituliert: Selten ist eine in die Irre führende Männerfantasie gespenstischer in Szene gesetzt worden als auf der ihre Genialität vielfach erweisenden Bühne von Florian Lösche.

Lulu bleibt eine männliche Projektion auch dann, wenn sie aus ihrem weißen Kokon geschlüpft ist. Nicht spinnengrau, sondern rot und rosa wie eine wandelnde Vulva steht sie jetzt im Künstleratelier, mit oval geformter Pluderhose und oval um den Körper gelegter Rüschenweste, dreifach vorhanden, versteht sich. Mit sanfter Stimme spricht das Trio im Chor, mit einer Zartheit und Verletzlichkeit, ohne dabei die Mechanik ihres kindlichen Sprechens zu verbergen: Automaten, deren Bewegungen roboterhaft geschmeidig dahingleiten, bevor sie sich – einige Männer und Kostümierungen später – wie Turnerinnen auf den zu Gymnastikbällen gewordenen Kugeln niederlassen. Lulu ist jetzt die reine Unschuld, doch noch immer entflammt sie die Fantasien der Männer, die wie Mäuse und Maulwürfe aus dem Erdreich schlüpfen: In den Bühnenboden hat Florian Lösche unsichtbare Öffnungen eingebaut, die sich lautlos öffnen und schließen, nachdem sich die Höhlenbewohner aus den Löchern geschleust haben.

Die Stützen der Gesellschaft

Grotesk gekleidet sind auch sie. Beatrix von Pilgrim steckt die Stützen der Gesellschaft in Kostüme, die einen Stich ins Ordinäre haben. Die verschlissenen Anzüge der Herren taugen höchstens für eine abgehalfterte Bohème – oder eben für das grandiose menschliche Bestiarium, das aus Wedekinds „Monstretragödie“ unter den beherzt zugreifenden, unfassbar weite Assoziationsräume aufreißenden Händen von Pilgrim, Lösche und Tsangari am Ende wird. Die Insassen ihres burlesken Bestiariums lassen sich nämlich nicht zähmen, da hilft keine Dressur und auch kein Dompteur. Um es mit Freud zu sagen: Noch immer regiert uns das Es, das Gebrodel aus Trieben und Instinkten, das dem Ich bis auf den heutigen Tag unkontrolliert in die Parade fährt – und diese dunkle, beunruhigende Ahnung, die menschliche Natur betreffend, unterstreicht die Regisseurin noch mit den von ihr gedrehten Videos. Zwischen den Akten dienen die Bühnenkugeln mal als Projektionsfläche für nervös hingestrichelte Graffiti zum Sexus der Frau, mal als Augäpfel der Dreifach-Lulu, die mit großen Pupillen verführerisch und verzweifelt, entspannt und panisch ins Publikum blickt.

Dass Athina Rachel Tsangari virtuos mit Videos umgehen kann, ist kein Zufall. Sie kommt vom Film und gilt, obwohl seit zwanzig Jahren in den USA arbeitend, als wichtigste Vertreterin des jungen griechischen Kinos. Mit „Atterberg“ beeindruckte sie 2010 das Publikum der Filmfestspiele in Venedig. Ihre Hauptdarstellerin, die Französin Ariane Labed, gewann damals den Preis als beste Schauspielerin. Labed ist auch jetzt als eine der drei wandlungsfähigen Lulus mit von der Partie.

Offensive der Frauen

Nicht zuletzt beweist die 51-jährige Tsangari mit ihrem souveränen Theaterdebüt, dass sie auch auf der Bühne mit Darstellern umgehen kann. Alle treffen den für ihr humanoides Bestiarium notwendigen Ton, unpsychologisch in seiner Sachlichkeit und trotzdem nicht ohne Teilnahme. Allen voran: Fritzi Haberlandt als Gräfin von Geschwitz, die sich in Liebe zu Lulu verzehrt, sowie Christian Friedel als Alwa und Rainer Bock in der Doppelrolle als Schigolch und Dr. Goll. Er, Bock, manövriert sich mit paternalistischer Gelassenheit in den Untergang. Lässiger und schicksalsblinder hat sich noch kaum jemand dem Tod ergeben.

Athina Rachel Tsangari ist nach Andrea Breth und Karin Henkel die dritte Regisseurin im diesjährigen Schauspiel der Festspiele. Und die Rechnung der neuen Theaterdirektorin Bettina Hering geht tatsächlich auf: Die Offensive der Frauen sorgt dafür, dass Salzburg im Sommer wieder eine Reise wert ist.