Mozarts Märchenoper als Gutenachtgeschichte in einer bunten Zirkuswelt, Strauss‘ Oscar-Wilde-Stück als Bilderrätsel: In Salzburg haben die Festspiele mit opulenten Spektakeln begonnen.

Salzburg - Nein, sie wollen noch nicht schlafen. Bitte, bitte, betteln die drei Knaben im Nachthemd ihren Opa an, bitte hör noch nicht auf mit dem Vorlesen, die Geschichte ist doch gerade so spannend! Seufzend schlägt Klaus Maria Brandauer das dicke Buch wieder auf, aus Lautsprechern tönen nochmals die drei Bläserakkorde, mit denen Mozart seine „Zauberflöte“ beginnen ließ, und weiter geht das bunte Theater, das die Regisseurin Lydia Steier gemeinsam mit der Bühnenbildnerin Katharina Schlipf und der Kostümbildnerin Ursula Kudrna als kindliche Welt voller fantastischer Figuren entworfen hat. Zumindest im ersten Akt: Da bietet die breite Bühne des Großen Festspielhauses ein von rechts nach links durchinszeniertes Augentheater in einem Zirkus-Ambiente, das belebt wird von Clowns, Akrobaten, Jongleuren, Tanzbären, übergroßen Puppen – und geleitet vom Zirkusdirektor Sarastro.

 

Dabei hat alles bei einem ganz normalen Abendessen begonnen. Zur Ouvertüre speist eine gründerzeitliche Familie – Vater, Mutter, drei Knaben und ein Großvater – im Esszimmer eines aufgeschnittenen, großen Hauses am Tisch, bedient von drei Damen. Der Vater liest Zeitung, springt plötzlich auf, rennt erregt aus dem Haus, woraufhin die Mutter wütend Geschirr zerdeppert. Die Ehekrise spiegelt den Konflikt zwischen Sarastro und der Königin der Nacht in der Oper, verweist ebenso aber auch auf eine weltpolitische Krisenlage. Industrialisierung, Emanzipation der Arbeiter, aufkommender Sozialismus, das Ende der Monarchie, der erste Weltkrieg: All diese Themen schwingen hier ebenfalls mit, sie bescheren den Zuschauern Bilder aus Schützengräben und eine lange akustische Einspielung von Bombeneinschlägen.

Opa liest eine Gutenachtgeschichte

Dass dies der Inszenierung Wesentliches hinzufügt, ist allerdings nicht zu bemerken. Aber der Rahmen passt. Opa liest eine Gute-Nacht-Geschichte. Diese Setzung machte es möglich, etliche der heiklen gesprochenen Dialoge zu streichen; das ist ein Gewinn, auch wenn nicht jede Volte des neuen Erzähltextes besser ist als das Eliminierte. Der Rahmen erlaubt es zudem, dass sich die Opernhandlung als kindliche Fantasie aus der Realität entwickelt. Wirklichkeit und Fiktion greifen auf zauberhafte Weise ineinander, und Brüche bedürfen keiner Rechtfertigung, weil sie hier systemimmanent sind. So springt etwa Tamino auf der Flucht vor der Schlange durchs Schlafzimmerfenster der Knaben, die drei Dienerinnen werden zu den drei Damen, die Mutter ähnelt der Königin der Nacht, aus dem „Sohn des Fleischhauers“, der unten in der Küche ein bisschen mit der Köchin flirtet, wird Papageno, und die drei Knaben spielen und singen: na klar, sich selbst.

Sie sind drei Wiener Sängerknaben, und sie machen ihre Sache grandios. Überzeugend sind ebenfalls Albina Shagimuratova als Königin der Nacht, Mauro Peter als Tamino Adam Plachetka als Papageno und Tareq Nazmi als Sprecher. Und bis zu ihrer großen g-Moll-Verzweiflungsarie hat auch Christiane Kargs Höhe viel Farbe und Strahlkraft entwickelt. Matthias Goerne ist allerdings eine Fehlbesetzung: Für die Basspartie des Sarastro fehlen dem Bariton sowohl die Tiefe als auch die artikulatorische Präzision. Für eine noch ärgere musikalische Enttäuschung sorgt indes Constantinos Carydis, der am Pult der Wiener Philharmoniker zwar etliche instrumentale Feinheiten herausarbeitet, aber die Dynamik (etwa mit eingespielten Pianissimo-Chören!) und vor allem die Tempi mächtig gegen den Strich bürstet. Manches ist so rasch, dass Orchester und Sänger kaum hinterherkommen, anderes so langsam, dass Bögen und Spannung zerbrechen, was unter anderem die Bildnisarie nachhaltig beschädigt, und zwischendurch wirft der Dirigent außerdem immer wieder willkürlich Beschleunigungen und Verlangsamungen ein. Will wohl ein Currentzis sein, aber der hat (meist) gute Gründe für das, was er tut.

Übrigens kippt das Geschehen im zweiten Akt. Das Bunte wird schwarzweiß, die politische Ebene drängt sich nach vorne; die Brüche im Stück kann und will Lydia Steier nicht kitten, aber sie spielt nun auch nicht mehr wirklich mit ihnen, und so endet ihre „Zauberflöte“ in einer Aneinanderreihung einzelner, lose verbundener Szenen. Vielleicht kann das nicht anders sein. Das Publikum applaudiert freundlich.

Verweigerung, Verfremdung und Verschiebung

Das tut es bei der zweiten Opernpremiere der Festspiele ebenfalls, aber dort wirkt der Beifall eher so, als sei er Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern nachempfunden: Womöglich wollte angesichts einer mit Rätseln überfrachteten Inszenierung von Strauss‘ „Salome“ durch Romeo Castellucci (der auch für Bühne, Kostüme und Licht verantwortlich war) einfach keiner riskieren, für intellektuell minderbemittelt gehalten zu werden. Zugegeben: Diese These ist kühn, und sie wird instabil, wenn man länger über die Bilder des Abends nachdenkt – weil man dann eben doch zahlreiche direkte Bezüge zu Oscar Wildes Text entdeckt. Nur gehört zu den zwei großen V-Worten dieses Regisseurs – Verweigerung und Verfremdung – eben noch ein drittes, nämlich die (zeitliche) Verschiebung. Sie bewirkt, dass manche Motive schon visuell aufscheinen, bevor von ihnen die Rede ist – und dass anderes erst lange nach seiner Erwähnung im Libretto zu sehen ist.

Die goldene Sanduhr, die sich eine Zeit lang mitten auf der Bühne im Kreis dreht, könnte ein Symbol dafür sein – oder auch nicht. Der Mond („wie eine Frau, die aufsteigt aus dem Grab“) prägt die Bilderwelt Castelluccis ebenso wie die Farben Rot, Weiß und Schwarz. Salomes Brautkleid hat hinten einen roten Fleck (Menstruation bei Vollmond? Oder Beweis einer vorangegangenen Vergewaltigung durch Herodes?). Der Prophet wütet unter einer kreisrunden Grabplatte, sein kreatürliches Alter Ego ist ein (echtes!) schwarzes Pferd, das in der Zisterne schnaubt und im Kreis trabt; schon zuvor hängen Sattel, Trense, Peitsche an der Wand, und später wird ein Plastik-Pferdekopf vor Salome liegen.

Zur Musik des Schleiertanzes hockt Salome reglos auf einem Stein

Der Kopf des Jochanaan ist dies jedoch nicht – stattdessen wird der Prinzessin ein kopfloser Körper serviert. Den Blick des Propheten, den die Prinzessin ersehnt, ist ihr hier nicht einmal im Tode gegönnt. Zuvor, beim Schleiertanz, hat sich der Regisseur für die extreme Verneinung von Bewegung entschieden: Festgebunden und fast nackt kauert Salome wie ein Embryo auf einem großen Stein, und während sich die Wiener Philharmoniker unter Franz Welser-Möst mit viel Detailgenauigkeit in Ekstase spielen, senkt sich ein anderer Fels von oben auf sie herab. Salome ist ausgeliefert, die Täterin ist eigentlich ein Opfer: Zwingender kann man das nicht zeigen.

So wie Musik auch einfach sinnlicher Klang ist, wollen Romeo Castelluccis Bilder aber auch einfach suggestive Bilder sein. Assoziationen – so wie etwa der dunkle schwarze (Wolken-?)Luftsack, der am Ende auf die Bühne fällt. Und wem das Visuelle zu viel ist, der könnte an diesem Abend problemlos auch einfach die Augen schließen. Das Orchester spielt wundervoll klar (nur anfangs vielleicht eine Spur zu laut), und neben einem wirkungsvoll wütenden Gábor Bretz als Jochanaan, neben dem klangschönen Narraboth von Julian Prégardien und dem nur von Spitzentönen gelegentlich angestrengten John Daszak als Herodes singt sich Asmik Grigorian mit einem zu Blüte wie zu Dramatik fähigen, jugendlich reinen und frischen (fast Spinto-)Sopran in die erste Riege der Salomes. Gäbe es bei Castellucci nicht so viel aufzuspüren, so hätte man immerhin noch sie: Was für eine Entdeckung!