Während das Samos Young Artists Festival junge Künstler aus aller Welt anlockt, kommen auf der griechischen Insel täglich bis zu fünfhundert Schutzsuchende auf Schlauchbooten an. Eindrücke einer Begegnung von Kultur mit der harten Realität.

Stuttgart - Sterne überall. Wohin die Augen der Konzertbesucher im Amphitheater von Pythagorion auch schauen: Abermillionen kleiner, glitzernder Punkte überziehen den Nachthimmel über der Ägäis, dazu immer wieder Sternschnuppen. Unter dem Himmel wiegen sich im warmen Nordwind Zypressen und Zedern, Pinien und Ölbäume. Dazu klingen von unten die zarten Töne von Schuberts später A-Dur-Sonate D 959 herauf. Auf einem hölzernen Podium, das wie die Publikumsbänke im Halbrund auf den Ruinen des im 4. Jahrhundert vor Christus erbauten antiken Theaters errichtet wurde, sitzt der Pianist Herbert Schuch am Flügel. Wohl selten hat der Hörer die Nuancen-Vielfalt seiner Anschlagskunst intensiver erfahren als in dieser berauschenden Natur-Kulisse.

 

Sein Klavierabend ist nur eines der sieben Konzerte des von Chiona Xanthapoulou-Schwarz initiierten Samos Young Artists Festival. Es verbindet Klassik von Künstlern wie dem Cellisten Maximilian Hornung oder der Anne-Sophie Mutter-Schülerin Ye-Eun Choi mit dem Piano-Jazz eines David Gazarov und der Weltmusik des bayerischen Quadro Nuevo.

Einige der Musiker versuchen zu helfen

Doch der kulturelle Sommertraum grenzt auf Samos an die harte Realität. Das Boot kam in aller Frühe. Fast fünfzig Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, hätten dicht gedrängt in dem großen Schlauchboot gesessen, erzählt der Strandwächter Alexis. Nun liegt das schwarze Gummiboot verlassen am Strand von Pythagorion – keine dreißig Meter entfernt von den Sonnenschirmen und Liegen, auf denen die Touristen ihren Urlaub genießen. Doch es ist nur eines von hunderten, die in diesem Jahr hier neben zahllosen, zu Rettungsringen umfunktionierten Schläuchen von Autoreifen schon angelandet sind: Bis zu fünfhundert Flüchtlinge kommen täglich auf Samos an – dabei leben auf der Sonneninsel selbst gerade einmal 33 000 Menschen. „Es ist unmöglich für die Griechen, diese Flüchtlingsströme allein zu bewältigen“, sagt die deutsch-griechische Mezzosopranistin Stella Doufexis, die als Kuratorin mit drei ihrer Düsseldorfer Studentinnen einen Opernabend für das Festival erarbeitet. „Wir müssen uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen – auch das ist ein Teil der europäischen Idee.“ Doch Europa scheint gerade sehr fern.

Manche der deutschen Festival-Musiker handeln da ganz pragmatisch, funktionieren ihr Leihauto kurzerhand zum Lieferwagen um. „Das sind Bilder, die man nicht wieder vergisst: eine verzweifelte junge Mutter mit ihrem apathischen Säugling und seinem verranzten Schnuller“, erzählt die Pianistin Silke Avenhaus, die mit ihrer Freundin und den beiden Töchtern für die Flüchtlinge Wasser und Lebensmittel im Discountmarkt eingekauft hat. Stundenlang stehen die Menschen aus Syrien, Afghanistan oder Somalia in der prallen Sonne vor dem Gebäude der Hafenbehörde und warten darauf, dass sie registriert werden, um auf eines der Fährschiffe zu kommen, das sie nach Athen bringt – vielleicht in eine bessere Zukunft.

Flüchtlinge waren auf der Insel immer ein Thema

„Es ist ein Gefühl der Ohnmacht“, beschreibt Armin Steuernagel die eigene Hilflosigkeit. Dennoch hat der Berliner gemeinsam mit zwei Dutzend weiteren jungen Leuten während des Festivals Hunderte von Litern Wasser, Brot und Babynahrung in die beiden Flüchtlingslager auf Samos gebracht und für die Ankömmlinge die Webseite first-contact.org gestaltet, um ihnen erste Hilfe in Sachen Bürokratie zu bieten. Wohl wissend, dass es am Ende „ein Tropfen auf dem heißen Stein bleibt“: Rund zwei Millionen Flüchtlinge, so macht auf Samos die Nachricht die Runde, sollen allein im Hinterland der Halbinsel Dilek auf ein Boot warten, um die von der türkischen Ägäis-Küste nur wenige Kilometer entfernten griechischen Inseln Lesbos, Chios oder eben Samos zu erreichen.

Flüchtlinge waren auf der Insel immer ein Thema. Der berühmteste Samonite war selbst einer von ihnen: Pythagoras, der hier seine Ideen zur Musik und Mathematik entwickelte, wurde einst vom Tyrannen Polykrates ins Exil verbannt. Später verliehen die Römer dem Hera-Tempel auf Samos das Privileg einer Asylstätte für jedermann. Auch Aleksandra Domanovic kennt das Thema aus eigener Erfahrung, hat die jugoslawische Künstlerin doch Vertreibung und den Zerfall ihres Landes hautnah erlebt – Eindrücke, die sich nun in ihrem Kunstprojekt „Hotel Marina Lucica“ im Art Space Pythagorion wiederfinden. Einem feinen, weißen Kubus, der bis vor vier Jahren selbst dem Verfall preisgegeben war: Seit 1998 hatte das 70er-Jahre-Hotel leer gestanden – dann kam Chiona Schwarz auf die Idee, aus der Ruine einen Kunstraum zu machen, allen Widerständen der griechischen Bürokratie zum Trotz.

Kultur mildert deutsch-griechische Verstimmungen

Denn Barrieren gab (und gibt) es viele, seit die Mäzenin aus München 2010 begonnen hat, auf Samos kulturelle Zeichen zu setzen. Verheiratet mit Kurt Schwarz, dessen Familie zu den reichsten Deutschlands zählt – bis zum Verkauf 2006 gehörte ihr das gleichnamige Pharma-Unternehmen –, erwarb die gebürtige Athenerin in dem 800-Seelen-Dorf Chora mehrere verlassene Gebäude und baute sie zu Gästehäusern für die Künstler um. „Da kommt eine Frau aus Deutschland und kauft einfach zahlreiche Häuser auf: Da gab es anfangs schon zahlreiche kritische Stimmen“, erinnert sich der junge Samioter Vassilis Pristouris. „Manch einer hat sogar gefragt, ob das alles legal sei.“ Doch Schwarz ließ sich nicht irritieren: Sie hat eine alte Bäckerei in einen akustisch feinen Probenraum samt Tonstudio umgewandelt und lässt derzeit die Lagerhalle der Winzergenossenschaft in einen Konzertsaal umbauen. Diese Projekte der Schwarz Foundation schaffen Arbeitsplätze, das Festival lockt zusätzliche Urlauber an.

Das tut gut in Zeiten griechisch-deutscher Verstimmungen: noch immer stellen die Deutschen die größte Touristenzahl auf Samos. Auch der junge Pristouris wird nicht müde zu beteuern, dass er eigentlich nichts gegen die Deutschen hätte – „vielleicht mag ich Merkel nicht“, schränkt er noch ein. Auch den Glauben an die eigenen Politiker hat er inzwischen verloren, selbst dem aus taktischen Gründen inzwischen zurückgetretenen Ministerpräsidenten traue die junge Generation keine Lösung der griechischen Krise mehr zu.

Suche nach der eigenen Identität

„Es ist eine Generation ohne Zukunft“, zeigt Konstantinos Arvanitakis Verständnis für die Frustration und Lethargie vieler Jugendlicher. Auch der Dozent an der Athener Schauspielschule ist nicht frei von solchen „No Future“-Gedanken: „Wie soll ich Vierjahres-Studienpläne entwickeln, wenn ich nicht weiß, was morgen ist?“ Dennoch hat der Regisseur mit einem Dutzend seiner Studenten für das Festival das „Pythagoras“-Projekt initiiert, sucht mit ihnen bei einer Straßen-Performance in Pythagorion nach Spuren des großen Philosophen – und damit auch der eigenen Identität.

Als es am zweiten Abend technische Probleme gibt, kippen die Schauspielschüler kurzerhand ihre Auseinandersetzung mit dem Zahlen-Denker, sinnieren stattdessen im Amphitheater mit Deutschland-kritischen Untertönen über die Sterne. „Die Krise ist halt allgegenwärtig“, meint der Schauspieler Akyllas Karazisis. Immerhin, so fügt der Nuevo-Akkordeonist Andreas Hinterseher hinzu: „Wenn die Zeiten schlechter werden, wird die Kultur für uns Menschen immer wichtiger.“