Es ist Herbst 1979, als man Heidi Stein und ihrem Mann ausrichten lässt, dass sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu kommen brauchen. Sie sollen zu Hause bleiben. Ein Funktionär aus Berlin habe sich angekündigt, um sie über den neuesten Stand im „Fall Dirk“ zu informieren. Hoffnung keimt auf, aber sie hören nichts Neues von dem Mann. Dirk sei tot, sie sollten ihn endlich, nach einem halben Jahr, offiziell für tot erklären. Sie fragt ihn, ob man wirklich nichts gefunden habe, ob man nicht die Halter des Moskwitsch ermittelt habe. Ja, längst, aber die hätten es nicht nötig, ein Kind zu entführen. „Zum ersten Mal habe ich das Wort Entführung gehört“, sagt Heidi Stein, „obwohl ich es so gar nicht gemeint habe.“ Der Mann sagt beim Abschied: „Unterschreiben Sie die Todeserklärung.“

 

Nach dem Verschwinden von Dirk empfindet Heidi Stein diesen Besuch als zweiten Schlüsselmoment ihres Lebens. Von nun an ist sie sicher, dass die Stasi ihren Sohn entführt hat, dass er ein Fall von Zwangsadoption wurde, die unter DDR-Bürgern ein offenes Geheimnis war. Nur dass die meisten Kinder ihren Eltern, wenn diese nicht linientreu waren, schon kurz nach der Geburt weggenommen wurden.

Frührente wegen angegriffener Nerven

Die Familie stellt einen Ausreiseantrag, dessen Genehmigung sich über Jahre zieht und am Ende abgelehnt wird. Aber Heidi Stein will weiterkämpfen. Ihrem Mann kommen da zum ersten Mal Zweifel am Sinn dieses Kampfes. Der Tod von Dirk ist nun fast vier Jahre her – länger als er bei ihnen war.

„Zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht mehr aufhören“, sagt Heidi Stein. Zu viel hatte sie investiert – Liebe, Zeit, unzählige Nächte, in denen sie wach lag und sich fragte, wie er lebt, ob er überhaupt noch lebt. Sie hat oft Schweißausbrüche wegen ihrer angegriffenen Nerven. Vor fünf Jahren ging sie deshalb in Frührente.

Dokumente einer Mutter ohne Frieden

Sie kocht Kaffee, stellt die Kanne auf den Schreibtisch zwischen die vielen Papiere, die dort ausgebreitet sind: Flyer mit dem Bild ihres Sohnes, Abschriebe aus der Ermittlungsakte vom Tag des Verschwindens und der Folgezeit, die Strafanzeige, die ihre Anwältin, die vierte schon im Laufe der Jahre, vor Kurzem erst gegen unbekannt stellte: „Wegen des Vermisstenfalls Dirk Schiller, geboren am 13. 6. 1975, vermisst seit dem 10. 3. 1979.“ Dokumente einer Mutter ohne Frieden.

Sie ist eine Frau mit unbeugsamem Willen und einer gewissen Sturheit. Um ihren Hals trägt sie eine Perlenkette, an den Fingern zwei goldene Ringe. Ihr Haar ist blondiert und nach hinten gekämmt. Die blauen Augen wirken wie Fragezeichen, auf nichts Bestimmtes gerichtet, als wolle der Blick an einem Ort jenseits von hier und jetzt ankern. Nur manchmal bewegt er sich zu einer kleinen Kamera neben dem Fernseher, die den Bereich vor dem Haus überwacht. „Das ist meine Macke“, sagt sie. Noch immer habe sie Angst vor der Stasi und für den Fall, dass Dirk irgendwann doch noch mal vor der Tür steht. Sie würde ihn wiedererkennen, da ist sie sich sicher.

Über dem Schreibtisch hängt ein Phantomfoto von Dirk. „So wie er heute sein könnte.“ Vor Kurzem ließ sie es von einem Fachmann anfertigen auf der Grundlage von Bildern ihres Cousins, ihres Ex-Manns, eines Neffen und von ihr selbst, „als ich in Dirks jetzigem Alter war“.

Alles begann mit einem geschenkten Familienurlaub

Im Januar 1979 liegt Post von ihrer Arbeitsstelle im Briefkasten, adressiert an Heidi Schiller, wie sie damals hieß. Die VEB Kohlekraftwerke Völkerfreundschaft in Görlitz, wo sie als Erzieherin für Lehrlinge arbeitet, gratuliert zur zehnjährigen Betriebszugehörigkeit und spendiert ihr „aus Anerkennung für ihre Verdienste“ einen zweiwöchigen Familienurlaub im Erholungsheim Stollberg im Erzgebirge. Sie freut sich, damit hat sie nicht gerechnet. Ihre Mutter ist zwar stramme Genossin, sie selbst aber war weder Mitglied der FdJ noch ist sie in der SED, was ihr öfter von Vorgesetzten vorgehalten wurde.

Am Ende eines bitterkalten Februars fahren sie los. Es sind knapp 200 Kilometer bis nach Stollberg. Auf der Fahrt möchte Dirk oft aufs Klo, essen, spielen. „Da hat er wieder seinen Bock gehabt,“ sagt Heidi Stein. „Aber man konnte ihm nie böse sein, so niedlich, wie er war.“ Der Urlaub vergeht rasch, „weil die Zeit immer schnell vergeht, wenn man glücklich ist“.

Gravierenden Ereignissen gehen oft banale Dinge voraus

Am letzten Tag, einem Samstag, 10. März 1979, wollen sie auf dem Weg nach Hause noch die Heimkehle besuchen, die größte Karsthöhle in der DDR, zwei Stunden entfernt von Stollberg. Unterwegs kaufen sie noch ein und sind trotzdem zu früh dort, weil in den Wintermonaten die Höhle erst um zehn Uhr öffnet. Sie gehen zurück zum Parkplatz, wo außer ihrem Trabant noch ein dunkelblauer Moskwitsch steht. Ein großes, seltenes Fabrikat, wie es nur höhere Parteikader fahren. Sie wollen ihn sich aus der Nähe anschauen, „weil Dirk fasziniert war von Autos“. Doch sie erkennen, dass jemand darin sitzt. Sie drehen ab und laufen hinunter zu einem Bach, der wegen der Kälte bis auf den Grund gefroren ist. Die Kinder spielen. Die Eltern gehen kurz zurück zum Wagen, kaum außer Sichtweite des Baches, um die Einkäufe vom Fußraum des Beifahrersitzes in den Kofferraum umzuräumen. In fünf Minuten seien sie wieder da. Gravierenden Ereignissen gehen oft banale Dinge voraus. Fünf Minuten später läuft ihnen Silvia entgegen. Die Mutter fragt: „Wo ist Dirk?“ Silvia dreht sich um und sagt, dass er eben noch hinter ihr war.

Nun beginnt das Danach im Leben von Heidi Stein. Für eine Weile ist sie noch ruhig. Gemeinsam suchen sie die Gegend ab, laufen ein paar Hundert Meter den Bach entlang. Ihr Mann tritt auf das Eis. Nichts regt sich, eingebrochen sein kann er nicht. Sie rufen nach Dirk. Keine Antwort. Dann schnürt ihnen die aufkommende Panik den Hals zu. Der Moskwitsch ist verschwunden. Doch das fällt Heidi Stein erst später auf. Sie rennen zur Höhle, die nun geöffnet hat. Der Pförtner informiert Feuerwehr und Polizei im nahen Sangerhausen. Sie suchen vergeblich. Schillers bleiben, suchen tags darauf noch mal die Gegend ab. Dann fahren sie zu dritt zurück nach Görlitz.

Besuch von einem Funktionär aus Berlin

Es ist Herbst 1979, als man Heidi Stein und ihrem Mann ausrichten lässt, dass sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit zu kommen brauchen. Sie sollen zu Hause bleiben. Ein Funktionär aus Berlin habe sich angekündigt, um sie über den neuesten Stand im „Fall Dirk“ zu informieren. Hoffnung keimt auf, aber sie hören nichts Neues von dem Mann. Dirk sei tot, sie sollten ihn endlich, nach einem halben Jahr, offiziell für tot erklären. Sie fragt ihn, ob man wirklich nichts gefunden habe, ob man nicht die Halter des Moskwitsch ermittelt habe. Ja, längst, aber die hätten es nicht nötig, ein Kind zu entführen. „Zum ersten Mal habe ich das Wort Entführung gehört“, sagt Heidi Stein, „obwohl ich es so gar nicht gemeint habe.“ Der Mann sagt beim Abschied: „Unterschreiben Sie die Todeserklärung.“

Nach dem Verschwinden von Dirk empfindet Heidi Stein diesen Besuch als zweiten Schlüsselmoment ihres Lebens. Von nun an ist sie sicher, dass die Stasi ihren Sohn entführt hat, dass er ein Fall von Zwangsadoption wurde, die unter DDR-Bürgern ein offenes Geheimnis war. Nur dass die meisten Kinder ihren Eltern, wenn diese nicht linientreu waren, schon kurz nach der Geburt weggenommen wurden.

Frührente wegen angegriffener Nerven

Die Familie stellt einen Ausreiseantrag, dessen Genehmigung sich über Jahre zieht und am Ende abgelehnt wird. Aber Heidi Stein will weiterkämpfen. Ihrem Mann kommen da zum ersten Mal Zweifel am Sinn dieses Kampfes. Der Tod von Dirk ist nun fast vier Jahre her – länger als er bei ihnen war.

„Zu dem Zeitpunkt konnte ich nicht mehr aufhören“, sagt Heidi Stein. Zu viel hatte sie investiert – Liebe, Zeit, unzählige Nächte, in denen sie wach lag und sich fragte, wie er lebt, ob er überhaupt noch lebt. Sie hat oft Schweißausbrüche wegen ihrer angegriffenen Nerven. Vor fünf Jahren ging sie deshalb in Frührente.

Als das Regime von den Hilferufen in den Westen erfuhr, verhaftete man die Schillers. Sie hatte gerade Claudia, die kleinere Tochter, in den Kindergarten gebracht. Ihr Mann saß schon im Wagen. Viereinhalb Jahre Bautzen wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung, Paragraf 99: „Es ist ausdrücklich verboten, ausländischen Organisationen Informationen zukommen zu lassen, die zum Nachteil der Interessen der DDR gerichtet sind.“ Nach fünfzehn Monaten werden sie von der Bundesrepublik freigekauft und können im Mai 1985 mit den Kindern in den ersehnten Westen reisen. „Ein befreiendes Gefühl.“ Aber es hält nicht lang an.

Aktenstudium nach dem Fall der Mauer

Ende der 80er lassen sie sich scheiden. Er sagt zum Abschied: „Lass mich wissen, wenn du ihn gefunden hast.“ Sie arbeitet hart, erkämpft sich eine Stelle als Vertreterin für Putzmittel, lernt einen neuen Mann kennen, heiratet. Alles sollte gut sein, „für den Fall, dass er auf einmal wieder da ist“. Ihre Tochter Silvia zieht mit 17 Jahren aus. Dass immer wieder Dirk das Thema ist, erträgt sie nicht länger. Nach zehn Jahren ist die Frage „Wo ist Dirk?“ für sie verjährt. Die Suche ihrer Mutter gleicht für sie immer mehr einem Wahn.

Dann fällt die Mauer, und Heidi Stein fährt hinüber nach Magdeburg, wo die Akte über ihren Sohn einsehbar wird. Sie liest und liest, mehrere Hundert Seiten. Irgendwann stößt sie auf einen Satz, den die Zentrale Koordinierungsgruppe der Staatssicherheit in Berlin der Bezirksverwaltung für Staatssicherheit in Leipzig schrieb. Es geht um den dunkelblauen Moskwitsch auf dem Parkplatz: „Bei möglicher Identifizierung sind keinerlei Maßnahmen einzuleiten. Fehlmeldung ist zu geben. Leiter der Abteilung Uhlmann, Oberst.“ Benommen verlässt sie das Gebäude. Es geht weiter.

Die Hoffnung stirbt zuletzt

Sie stellt Anfragen an Staatsanwaltschaften und andere Behörden, die aber keinen Anlass mehr sehen, nach ihm zu suchen. Sie lässt Tausende von Flyer drucken, mit Dirk darauf. Sie gründet den Verein Netzwerk für Stasiopfer. Ende der Neunziger stirbt ihr zweiter Mann an Krebs. Heidi Stein sucht weiter.

Vor einem Jahr hat sie ernsthafte Hoffnung. Der Vatikan antwortet auf ihr Hilfsbegehren, man werde den vatikanischen Suchdienst einschalten. Doch der findet nichts. Das Phantombild über ihrem Schreibtisch ist die neueste Hoffnung. Sie will es Aktenzeichen XY schicken.

Und wenn er tatsächlich eines Tages vor der Türe steht? Wie wird es sein? „Hm“, sagt sie, hält die Hand vor den Mund und schüttelt den Kopf. „Ich weiß nicht, wie er reagiert. Ich würde versuchen, ihn zu umarmen. Aber vielleicht haben die ihm ja gesagt, seine Mutter war eine Verbrecherin.“ Nur eines weiß sie sicher: sie würde dann doch noch so etwas wie Frieden finden.