Dass er einmal zum Fernsehstar würde, hat sich Julian Fassing nicht träumen lassen. 20 Jahre lang hat der 46-Jährige im Stillen Stellwerke gebaut und Gleise saniert. Doch nun reckt sich dem Projektleiter für die Generalsanierung der Riedbahn zwischen Frankfurt und Mannheim ein halbes Dutzend Mikrofone entgegen. Sogar die ZDF-Kindernachrichten sind dabei. Als Kulisse rollt im Schritttempo eine mehr als 150 Meter lange und 370 Tonnen schwere Fabrik auf Schienen vorbei. Der gelbe Gleisumbauzug namens „Edelweiss“ wechselt dröhnend wie am Fließband Schwellen und Schienen aus.
Was haben die Bahnkunden davon?
Geduldig beantwortet Fassing immer dieselben Fragen: Was wird hier gemacht? „Wir tauschen hier die Gleise. Wenn es gut läuft, schafft der Schnellumbauzug 260 bis 300 Meter in der Stunde.“ Und warum? „Gleise halten zwanzig bis dreißig Jahre – und die letzte große Sanierung war hier vor zwanzig Jahren.“ Was haben die Bahnkunden davon? „Neue Anlagen bedeuten weniger Störungen. Zudem bauen wir etwa zusätzliche Ausweichmöglichkeiten, sodass es mehr Möglichkeiten geben wird, Verspätungen abzupuffern.“ Schaffen Sie alles? „Dank des guten Wetters liegen wir vor Plan.“ Am schwierigsten, sagt Fassing, seien die Arbeiten in den Bahnhöfen: „Da hängt alles mit allem zusammen – wenn etwas ins Rutschen kommt, haben sie eine Kettenreaktion.“ Dass Journalisten gleich im Dutzend mit Warnwesten, DB-Helmen und Schutzstiefeln auf der Strecke spazieren, ist bezeichnend für die bisher ehrgeizigste Streckensanierung der Deutschen Bahn. Nicht nur, dass sich der Bauleiter regelmäßig Pressetage freihält, es gibt für das Vorzeigeprojekt sogar einen Youtube-Kanal namens „Bahnsinn Riedbahn“.
Geld spielt (fast) keine Rolle
Für fünf Monate von Juli bis Dezember ist die wichtigste Fernstrecke im deutschen Bahnnetz auf 70 Kilometern Länge total gesperrt. Solche Sperrungen sind nicht neu. 2020 stand für Monate der Verkehr auf der Schnellstrecke zwischen Mannheim und Stuttgart still. „Aber was wir hier machen, hat es so noch nicht gegeben“, sagt Fassing. „Wir bauen nicht nur Gleise und Weichen, sondern auch Lärmschutzwände, Bahnsteige und Unterführungen, Signale und neue Oberleitungen.“ Ein Befreiungsschlag nach Jahrzehnten des Kaputtsparens. Fünf Jahre soll dann Ruhe sein. Für aktuell veranschlagte 1,3 Milliarden Euro, die sich in der Planungszeit fast verdreifacht haben, wird geklotzt, nicht gekleckert. Die Zahl ist auf der Riedbahn-Webseite zwischen Statistiken zu den verbauten 380 000 Tonnen Schotter und 265 000 Schwellen freilich nicht zu finden.
Ersatzbusse auf Hochglanz
Die 150 pinkfarbenen Busse für den von der Bahn selber betriebenen Ersatzverkehr sind nagelneu. Die Sitze sind bequem, das WLAN funktioniert. Hunderte Fahrer hat man europaweit rekrutiert. In Rekordzeit wurde eine Umleitungsstrecke für den Güterverkehr elektrifiziert. Allein für die Bauzeit, danach fahren zunächst keine elektrischen Züge.
Doch die nächste Totalsanierung zwischen Hamburg und Berlin wird weniger glänzen. Bereits seit Mitte August bis Mitte Dezember wird den Fahrgästen eine erste Totalsperrung zugemutet. Die echte Generalsanierung kommt 2025 obendrauf. Statt fünf Monate, wie von der Bahn für die Großprojekte versprochen, dauert sie neun. Auch die schicken neuen DB-Ersatzbusse fahren dort nicht. Den Zuschlag erhielt ein billigerer Anbieter. Nur für ein Drittel der geplanten 40 Generalsanierungen bis 2030 ist Geld vom Bund zugesagt. Nach 2027 ist alles offen. Laut „Manager Magazin“ wurden sogar Arbeiten auf der Riedbahn schon abgespeckt. So werde die Oberleitung weniger umfangreich saniert als anfangs geplant. Eine Grundrenovierung der Brücken war sowieso nie auf dem Programm. Lieber zeigt man die Gleisumbauzüge vor. Zeitweise gab es drei an der Strecke.
„Für unsere Arbeiter ist angenehm, dass sie einmal durchgehend tagsüber arbeiten“, sagt Oliver Stern, Projektleiter der für den Abschnitt Biblis zuständigen Göppinger Baufirma Leonhard Weiss. „Gleisbau ist sonst immer ein Kampf gegen die Uhr.“ Der Umbauzug ist eigentlich in ganz Europa unterwegs. Dass man monatelang an derselben Strecke arbeite, sei ungewöhnlich.
Satter Auftrag für die Baufirmen
Die Baufirmen sind die Gewinner. Sie arbeiten hier das vierfache Bauvolumen ab als sonst bei einer Streckenerneuerung. Das sei überambitioniert, sagte Anfang des Jahres Peter Hübner, Vorstandsmitglied des Baukonzerns Strabag und Präsident des Verbandes der Deutschen Bauindustrie: „Die Lose sind zu groß, das Projektmanagement der Bahn überfordert, alle wollen zu viel in zu kurzer Zeit.“ Oliver Stern winkt ab. Da man in seinem Abschnitt für alles zuständig sei, von den Bahnsteigen über die Gleise bis zur Oberleitung, könne man gut jonglieren, sagt er: „Wenn ein Bagger anderswo aushelfen muss, kann man das flexibel regeln.“
Doch anderswo gibt es Engpässe. Die Inbetriebnahme eines neuen digitalen Signalsystems, das schon Stuttgart 21 verzögert, wird wohl Monate über die Bauphase hinaus dauern. Weil das alte System demontiert wurde, werden die Züge zunächst langsamer sein als vor der Sanierung.
Vorzeigeprojekte kaschieren Rückbau
Wie man vom Steuerzahler finanzierte Großprojekte ins rechte Licht rückt, darin hat die Bahn Routine. Lautlos hat man hingegen die vorhandene Infrastruktur demontiert.
Seit der Bahnreform 1994 ist das Netz von 40 000 auf 33 000 Kilometer geschrumpft. Die Zahl der Weichen wurde von 132 000 auf 66 000 halbiert. Manche Weichen, die man auf der Riedbahn zusätzlich einbaut, hat es einst gegeben. Verschwunden sind überall Signale, Wartungskapazitäten oder teils hoch spezialisiertes Personal, das nun etwa fehlt, um alte Stellwerke zu betreiben.
Parallel stieg der Zugverkehr und wurde immer enger getaktet. Für einen funktionierenden Bahnbetrieb im ganzen Netz zu sorgen, wäre Kärrnerarbeit, zu der man keine Fernsehteams einladen kann.
„Es ist richtig, dass jetzt saniert wird – aber doch nicht so“, sagt der pensionierte Bahningenieur und ehemalige Netzplaner Werner Weigand, der in der Nähe der Riedbahn lebt. Seinen Zorn über den Umgang mit dem Schienennetz hat er 2021 in ein Buch gegossen. Mehr als 150 Jahre sei bei der Bahn im laufenden Betrieb gebaut worden, sagt er. Nun wird ein durch Sperrungen amputiertes Netz normal. Schon 2027 wird die Region an der Riedbahn die nächste Großbaustelle erdulden, wenn die heutige Umleitungsstrecke über Darmstadt an der Reihe ist. Und wenn alles auf einmal umgebaut wird, ist irgendwann alles gleichzeitig kaputt.
Holprige Fahrt nach Mannheim
Das freundliche DB-Presseteam an der Riedbahn immerhin tut sein Bestes. Es hilft bei der Rückfahrt zur Haltestelle des Busersatzverkehrs. Sie liegt aber am Bahnhof Biblis auf der anderen Seite der Gleise – was das Navi nicht weiß. Es dauert, bis unter den Haltestellen für den lokalen Ersatzbus und die Expresslinie nach Mannheim die richtige gefunden ist. Express ist die Fahrt über die Dörfer aber nicht. Und nicht jeder Fahrer scheint zu wissen, welche Stopps der Schnellbus auslässt. „Ihr Kollege vorhin ist einfach durchgefahren“, sagt eine Fahrgastgruppe grimmig beim Zusteigen an einem Zwischenstopp. Die Linie fährt in Mannheim nicht zum Hauptbahnhof. Endstation ist am Stadtrand. Es heißt umsteigen in die Straßenbahn. Und so braucht es von Biblis eineinhalb Stunden zum ICE-Anschluss – statt 22 Minuten mit dem Regionalexpress. Der ICE von Frankfurt ist dank Fahrzeitpuffer trotz Umleitung pünktlich. Auch hier hält die Bahn die Baustelle Riedbahn makellos. Seine Verspätung von zehn Minuten Richtung Stuttgart sammelt er dann gleich beim Wenden. Denn es gibt eine „Störung am Zug.“