Die Sanierung des Tübinger Rathauses führt zu manch neuer Erkenntnis: Unter anderem zeigte sich während der Bauarbeiten, dass nicht, wie bisher angenommen, Herzog Ulrich zu den Bauherren zählte.

Tübingen - Bei so ziemlich jeder Stadtführung durch Tübingen wird das Rathaus vorgestellt. Erbaut 1435, aufgestockt im Jahr 1508. So ist es auch an der Fassade zu lesen. Das erste Datum stimmt, das zweite hingegen nicht. „Es ist eine große Überraschung – 1495 oder 1496 wurde das Haus um oberste Geschoss ergänzt“, sagt der Bauhistoriker Tilmann Marstaller. Er hat im Rahmen der laufenden Sanierung des Rathauses das Dachgebälk datieren lassen: Die Fälldaten sind einheitlich aus dem Winter 1494/1495. „Danach wurden die Baumstämme aus dem Schwarzwald von Flößern ab Sulz den Neckar abwärts gebracht und mit maximal einem Jahr Verzögerung verbaut“, erklärt Marstaller.

 

Zunächst mag die um 13 Jahre frühere Datierung unbedeutend erscheinen, historische Bedeutung hat sie gleichwohl: Bauherr dieser Aufstockung war nicht wie bisher angenommen Herzog Ulrich (1487–1550), sondern Graf Eberhard im Barte (1445–1496). Der hat Tübingen 1477 zur Universitätsstadt gemacht. Die Stadthistoriker rätseln auch über die daraus resultierende Jahresgleichheit zwischen der Erhebung Württembergs zum Herzogtum und des Rathaus-Umbaus. Gibt es einen Zusammenhang? Der Anlass des tief greifenden Eingriffs ist nirgends überliefert. Laut dem Stadtarchiv gibt es aber Hinweise darauf, dass in einem großen Saal im Obergeschoss die Tübinger Gesellschaft Feste feierte.

Das Hofgericht erhält seinen ständigen Sitz

Nach 1514 änderte sich die multifunktionale Nutzung des Saales – das württembergische Hofgericht erhielt hier seinen ständigen Sitz. Details wurden in dem am 8. Juli 1514 zwischen den württembergischen Landständen und Herzog Ulrich geschlossenen Tübinger Vertrag geregelt. Er gilt als wichtigstes Verfassungsdokument im Herzogtum Württemberg und wird als „württembergische Magna Carta“ bezeichnet. Das Hofgericht tagte bis 1806 in Tübingen, dann wurde es nach Stuttgart verlegt.

Nachdem mehrere Trennwände herausgenommen wurden, ist dieser Saal über dem Dienstzimmer des Oberbürgermeisters erst jetzt in seiner Dimension wieder erkennbar. Diese Möglichkeit wurde erst während der Sanierung deutlich. Zuletzt waren hier kleine Büros untergebracht. Angesichts der jüngsten Entwicklungen hat der Gemeinderat 200 000 Euro für die Wiederherstellung des Hofgerichtssaals bewilligt. Er wird 2014 bei den Feierlichkeiten zum 500-jährigen bestehen des Tübinger Vertrags bestimmt seine Rolle spielen.

Drei statt einer großen Halle

Die grundlegende Sanierung des Rathauses hat auch im Erdgeschoss Überraschendes zu Tage gebracht. „Bisher hat man angenommen, dass es hier eine große Halle gab, doch es waren drei, wir müssen also die Geschichte umschreiben“, sagt Tilman Marstaller. Die Bauforschung ist auf Reste von Trennwänden gestoßen und konnte Rückschlüsse durch so genannte Blattsassen ziehen, die Querhölzer aufgenommen hatten. Lachend spricht Marstaller von einem „Supermarkt“ aus dem Jahr 1435. Er nimmt an, dass in einer Halle Fleischbänke standen, ein einer zweiten Brotbänke. Die Begriffe stammen aus dem Mittelalter, als Metzger und Bäcker ihre Verkaufsstände zentral zusammenfassten. Die Bankform ihrer Verkaufstische führte zu dem Namen. „Rechts befand sich eine Durchfahrt in die Rathausgasse“, beschreibt Marstaller eine weitere neue Erkenntnis. Das Rathaus hatte demnach drei Schauseiten. Das änderte sich 1548 durch den Anbau eines Salzhauses, von dem heute noch der Keller besteht und ein Torbogen für die Durchfahrt zwischen den Gebäuden. Salzhaus und Fleischbänke könnten durchaus im Zusammenhang gestanden haben, mutmaßt Marstaller.

„Die Bürger sollten die Verwaltung nicht stören“

In späteren Jahrhunderten wurde das Rathaus immer wieder um- und die drei Hallen im Erdgeschoss weitgehend zugebaut. „Die Bürger mögen die Verwaltung nicht bei der Arbeit stören“, beschreibt Oberbürgermeister Boris Palmer den zuletzt vorherrschenden Eindruck, „in Zukunft laden wir die Bürger herzlich ein“. Die Freifläche im Rathaus-Parterre soll großzügig erhalten bleiben. Allenfalls einige für die Öffentlichkeit zugängliche Räume des Bürgeramtes und des Bürger- und Verkehrsvereins sollen errichtet werden.

Die letzte große Sanierung hat es Ende der 1960er-Jahre gegeben, Palmer nennt sie „Unfug“. Grund ist eine dem Zeitgeist geschuldete Verwendung von Beton und Stahl. Sichtbetonstützen ersetzen im Arkadenbereich das Holzfachwerk, innen wurden Stahlstreben neben tragende Holzkonstruktionen gestellt. Laut dem Architektenteam geht es nun darum, den „Frevel wieder auszubauen“.

Alte Balken erhalten ihre Funktion zurück

Im Gebäude kann das alte Tragwerk reaktiviert werden. Damit verbesserten sich Statik und Brandschutz, erklären die Architekten. 2015 soll die Sanierung abgeschlossen sein und das Rathaus in seinem Erscheinungsbild durch Verkleidungen der Betonpfeiler im Erdgeschoss der Ansicht von 1920 ähneln. Die Fassade wurde 1877 anlässlich des 400-Jahr-Jubiläums der Universität bemalt und zeigt neben den falschen Datum der Aufstockung auch Graf Eberhard im Barte, der für dieses historische Gebäude wichtiger war als bisher angenommen. „Mit ihm als Figur hat man ins Schwarze getroffen“, sagt Marstaller.