Markgröningen-Unterriexingen - Zwieback. Diese Metapher fällt Pfarrer Ralph Hermann ein, wenn er an den Zustand der äußeren Auflagebalken seiner Kirche denkt. „Die Mauerschwellen sind verwittert, verfault oder schlichtweg nicht mehr vorhanden“, sagt er. Risse durchziehen die Kirchenwände. Und ist das Wetter stürmisch, dann ist es Hermann flau im Magen, denn das Mörtelbett mancher Dachziegel hat sich entmaterialisiert. „Bisher sind zum Glück weder Personen noch Automobile zu Schaden gekommen“, meint Hermann. Doch die Kirche ist, so spitzte es die zuständige Architektin vom Evangelischen Oberkirchenrat zu, „ein Katastrophenfall“.
600 000 Euro für das Kirchendach, 290 000 Euro für die Turmsanierung: Nach der ersten Kostenschätzung oszillierten Pfarrer und Kirchengemeinderat zwischen Schockstarre und Verzagen. „Größtmögliches Schadensausmaß traf auf kleinstmöglichen finanziellen Spielraum“, kommentiert Hermann, der seit rund zwei Jahren Pfarrer in dem Markgröninger Teilort ist. Die Gemeinde hat gerade mal rund 1000 Mitglieder. Die Summe: astronomisch. Selbst der Landeskirchliche Fundraiser prognostizierte: „Das könnt ihr nicht schaffen.“ Aber die Kirche verloren geben? Unvorstellbar.
Die Handschrift des späteren Stararchitekten
Schließlich ist sie ein besonderes Gotteshaus. Der spätgotische Bau mit der untypischen steinernen Kanzel in der Nordwand und dem Grafenstuhl, in dem der ortsansässige Adel auch heutzutage noch mitunter Platz nimmt, hat auch in anderer Hinsicht eine bemerkenswerte Geschichte, die Architekturfans elektrisieren dürfte: Es war kein Geringerer als Bruno Taut, der die Kirche 1906 räumlich und farblich neu ordnete. Taut war in den 1920er Jahren der markanteste Vertreter des Neuen Bauens und wurde unter anderem durch die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz und die Großsiedlung Onkel Toms Hütte in Berlin-Zehlendorf bekannt.
Die Kirchenumgestaltung in der schwäbischen Provinz war der erste Auftrag des damals 26-Jährigen, vermittelt hatte ihn Tauts Stuttgarter Mentor, der renommierte Architekt Theodor Fischer. Taut wollte damals nach eigenen Worten „so wenig wie möglich am Charakter des Raumes ändern, um dessen Reiz möglichst zu erhalten“. Die Kosten lagen bei 6400 Mark: „Eine Summe, deren Kleinheit sich durch die billigeren ländlichen Verhältnisse und die Verwendung des einfachsten Materials erklärt“, referierte Taut 1908 in der „Architektonischen Rundschau“. Während sein Raumkonzept mit der Neuanordnung der Sitzbänke Anerkennung fand, stieß sein kühnes Farbkonzept – moosgrüne Bänke, bläulichweiße Wände, blauer, goldsternenfunkelnder Chor-Himmel und orangefarbener Jesus – aber nicht nur auf Begeisterung. Das Farbenfest lenke vom Beten ab, argwöhnten Kritiker. Keine zwei Jahrzehnte währte der bunte Kirchenraum-Traum. In den 1920er Jahren wurden die Wände wieder weiß, die Bänke grau gestrichen.
Zwischen Bangen und Hoffen
Ein paar Taut’sche Originale gibt es in der Kirche heute noch. Brüstungsbilder zum Beispiel, und auch eine grüne Bank, die allerdings auf dem Dachboden steht, wie Harald Goldschmidt berichtet. Er kennt sich mit der Kirche besonders gut aus und ist Co-Autor eines Kirchenführers. Doch zum Grübeln über Entscheidungen von damals hat im Jahr 2021 kaum jemand einen Kopf.
Die stramm in Richtung eine Million gehende Sanierungssumme konnte mittlerweile zwar auf 400 000 Euro gedeckelt werden, „weil wir mit einer Statikerin neu gedacht und ein anderes Konzept für das Dachtragwerk gefunden haben“, erzählt Ralph Hermann. Aus dem Ausgleichsstock der Landeskirche ist eine 35-Prozent-Beteiligung zugesagt. „Vielleicht werden es sogar 50 Prozent“, hofft er. Die weiteren 15 Prozent könnten aus dem Sonderförderprogramm Kirchensanierungen stammen. Vorgemerkt ist das Projekt jedenfalls dafür. „Wir warten mit bangem Herzen auf die Information dazu.“ Zehn Prozent der zuschussfähigen Kosten übernimmt der Kirchenbezirk als Solidarleistung. Doch die Notlage mobilisierte auch ungeahnte Kräfte im Ort – auch bei Menschen, die sonntags eher nicht der Predigt lauschen. Und das, obwohl Coronazeiten sind. Flohmarkt, Kuchenverkauf, Basar, Kirchweihfest: Alles, was etwas Geld einbringen könnte, muss wegen der Pandemie ausfallen. Dafür entstand anderes. Ein Gemüsebetrieb und der örtliche Safthersteller, die Volksbank und die Sparkasse, der Posaunenchor mit einem im Spätsommer noch möglichen Open-Air-Abstands-Wunschkonzert: Sie alle machten Geld für die Kirche locker.
Ein Ort legt sich ins Zeug
In den Geschäften stehen Spendengläser, in die Kunden Kleingeld für die Kirchen-Instandsetzung werfen. Der Pfarrer rief eine Altsilber-und-Bruchgold-Spendenaktion ins Leben und bekam schon die eine oder andere Tüte mit aussortiertem Besteck oder Schmuck in die Hand gedrückt. Und jüngst hatte er einfach mal einen Umschlag mit 250 Euro für die Sanierung im Briefkasten. Den Ideenreichtum und die Großzügigkeit zugunsten der Dorfkirche erlebt er als „absolut ermutigend“.
Auch die Stiftung zur Bewahrung kirchlicher Baudenkmäler in Deutschland in Hannover schießt 10 000 Euro für das Projekt zu. Anfang Februar ernannte sie die Dorfkirche zur „Kirche des Monats“, weshalb das Gotteshaus jetzt auf der Stiftungs-Homepage zu Ehren kommt und zusätzliche Promotion erfährt. 67 000 Euro Eigenmittel muss die Kirchengemeinde trotzdem noch aus dem Hut zaubern. Ralph Hermann ist mittlerweile zuversichtlich, dass sie das hinkriegen wird. Und dass in Unterriexingen die Kirche im Dorf bleibt.