Vor 25 Jahren begann der Bosnienkieg. Sarajewo wurde zum Symbol für das Leiden unschuldiger Zivilisten. Wird sich die Stadt jemals von dem Trauma befreien können?

Korrespondenten: Thomas Roser (tro)

Sarajewo - Die Stunden, als der Krieg in ihr Leben kam, hat Benita Islamovic nie vergessen. Eine „Atmosphäre der Angst“ habe am 5. April 1992 in Sarajevo geherrscht, erinnert sich die heute 55-Jährige an den Tag, an dem die Bewohner der Vielvölkerstadt den Krieg vergeblich zu verhindern versuchten. „Wir wollten den Wahnsinn stoppen“, erklärt die zierliche Bibliothekarin. Wie Hunderttausende andere zog auch sie damals in Richtung Parlament und rief: „Wir wollen Frieden.“

 

Schon seit Sommer 1991 wütete im nahen Kroatien der Krieg. Doch obwohl die Bewohner der Olympiastadt in den ersten Apriltagen verstörende Nachrichten von Massakern serbischer Freischärler erreichten und Jugoslawiens serbisch dominierte Volksarmee den Flughafen besetzt hatte, wollte Benita bis zuletzt nicht an das drohende Szenario eines offenen Krieges glauben.   „Natürlich hofften wir, zumindest hier den Krieg zu verhindern“, sagt die zweifache Mutter. „Jahrhundertelang“ sei Sarajevo schließlich eine multinationale Stadt gewesen: „Nicht nur Familien waren gemischt, sondern ganze Firmenbelegschaften und Viertel. Niemand dachte darüber nach, ob der andere Serbe, Kroate, Muslim, Roma oder Jude ist.“

Plötzlich peitschten die Schüsse

Doch die Hoffnung starb im Kugelhagel: Von einem Moment verwandelte sich „Europas Jerusalem“ in die Hölle auf Erden. Sie habe vor dem Parlament gestanden, als plötzlich aus Richtung des nahen Holiday-Inn-Hotels Schüsse peitschten: „Plötzlich wurde von allen Seiten geschossen. Man wusste nicht, wer schießt, von wo und auf wen. Ich hatte furchtbare Angst.“  Die ersten Opfer des Krieges waren die Studentin Suada Dilberovic und die Angestellte Olga Sucic. Sie wurden von Scharfschützen erschossen. Ihr Tod war der Auftakt eines für Europas Nachkriegszeit bis dahin beispiellosen Blutvergießens. Über 11 000 Menschen verloren in Sarajevo, über 100 000 Menschen im ganzen Land im Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 ihr Leben.  

Heute donnert der Verkehr über die einstige Allee der Heckenschützen. Hinter der von Einschusslöchern übersäten Fassade des Notquartiers der Nationalbibliothek erinnert sich Benita Islamovic an die Schrecken der Belagerung. Von den Höhenzügen beschossen schwere Geschütze die eingekesselte Stadt. Und die Scharfschützen nahmen vom nahen Grbavica-Stadions ihre Straße ins Visier: „Wenn man morgens zur Arbeit ging, wusste man nie, ob man wieder zurückkommen würde.“ An dem Tag, als die Bibliothek und damit ihr Arbeitsplatz in Flammen aufging, tötete ein Scharfschütze eine Kollegin mit einem Kopfschuss. Am Leben gehalten habe sie nur die karge Nahrungsmittelhilfe: „Von 65 Kilo magerte ich auf 45 Kilogramm ab.“ Dennoch hätten die Frauen sorgfältig gepflegt das Haus verlassen: „Falls der Scharfschütze sie erwischen sollte, wollten sie wenigstens anständig gekleidet ins Leichenschauhaus eingeliefert werden.“

Im Hotel wohnten nur Kriegsreporter

  Im Hotel Holiday war Hajro Rovcanin Saalchef, als der Krieg über seine Stadt kam. Der heutige Hoteldirektor leidet noch immer unter seinen Erinnerungen. „Ich würde den Krieg am liebsten vergessen. Doch das geht nicht.“   Als „Spiegel von Bosniens Entwicklung“ bezeichnet der Mann im dunklen Anzug seinen Arbeitsplatz. 1984 zu den Olympischen Winterspielen eröffnet gastierten in dem Hotel zunächst Sportjournalisten und Funktionäre. Im Frühjahr 1992 sollten Kriegsreporter die eher entleerten Fluchten des Fronthotels beziehen. „Für uns waren die Journalisten wie eine Familie“, erinnert sich Rovcanin. „Sie waren unser Kontakt zur Außenwelt.“ Oft habe er nach Granateinschlägen Zimmerbrände löschen müssen. Trotzdem sei das Hotel relativ gut davongekommen: „Die Serben wussten, dass hier die Weltpresse gastierte – und hielten sich zurück.“

  Nach Kriegsende wurde der gelbe Klinkerbau zum Ziel von ausländischen Politikern und Hilfsorganisationen: „Wir waren trotz hoher Preise ständig voll – und ohne Konkurrenz.“ Nach der Jahrtausendwende erlahmte das Interesse an Bosnien und die Gäste blieben aus. Statt Gäste standen nur noch Gläubiger Schlange. 2015 erklärte das Hotel seinen Bankrott.

Vor dem Sitz der Regionalregierung in Sarajevo gibt es regelmäßig Demonstrationen gegen Korruption und Vetternwirtschaft. Im Krieg habe er aufseiten der kroatischen Streitkräfte gegen die Truppen der muslimischen Bosniaken gekämpft, berichtet der frühere Berufssoldat Vinko. „Die Politik hatte uns einst gegeneinander in den Krieg geführt– und nun im Kampf um unsere Altersversorgung vereint.“ Bosniens Problem sei, dass in dem Vielvölkerstaat „nichts funktioniert“, seufzt der arbeitslose Hobbyimker.

Gemischte Familien spürten die Folgen des Wahnsinns

 Clubmusik plätschert aus den Lautsprechern im Café Tito. Unter der Büste von Jugoslawiens einstigem Staatenlenker schlürfen jüngere Gäste ihren Kaffee, die sich kaum mehr an das jugoslawische Vorkriegsbosnien erinnern. Sie sei einfach zu jung, um sich wirklich daran zu erinnern, sagt die 33-jährige Kunsthistorikerin Ines Tanovac. Doch das frühere Jugoslawien sei zumindest ein Land gewesen, in dem sich der Staat um die Bürger gekümmert habe: „Davon kann man heute nur träumen.“   Nicht nur kriminelle Privatisierungen und korrupte Politiker hätten das Land zerstört. Die absurde, im Friedensabkommen von Dayton festgeschriebene Dreiteilung des Landes habe die ethnische Trennung noch verstärkt, klagt die aus Mostar stammende Tochter einer muslimisch-kroatischen Ehe. Gemischte Familien hätten die Folgen des Wahnsinns zu spüren bekommen: „Mein Vater saß im Krieg in einem kroatischen Gefangenenlager. Ich wurde von einer Granate der muslimischen Bosniaken verletzt.“

Die Politik gießt Öl ins Feuer

Bosniens Politoligarchen würden sich den Krieg noch immer zunutze machen, berichtet die Bürgerrechtsaktivistin: „Vor jeder Wahl werden alte Ängste geschürt, damit die Leute doch wieder für die nationalen Parteien stimmen.“ Den Leuten werde eingeflüstert, dass sie voreinander Angst haben müssten, obwohl sie eigentlich ihre Politiker fürchten müssten: „Denn die haben nur ein Ziel: dass die Lage so bleibt, wie sie ist.“   Sie träume oft vom Krieg und wie sie vor ihm zu flüchten versuche, sagt Benita: „Wir haben alle verletzte Seelen.“ Hass gegen Serben verspüre sie nicht. Ihr Sohn sei mit einer Serbin verheiratet. Sie könne nicht verstehen, dass Politiker die Leute noch immer gegeneinander aufhetzten, klagt sie über Bosniens „endlose Nachkriegszeit“.

Immerhin: In der Lobby des renovierten Hotel Holiday sprudelt wieder der Springbrunnen. „Wir kehren dahin zurück, wo wir waren – an die Spitze“, freut sich Direktor Rovcanin. Ob Bosnien wieder zu einstigem Olympiaglanz zurückfindet, hält er für zweifelhaft: „Es sind immer wieder die Politiker, die Öl ins Feuer gießen.“