Sasa Stanisic ist für seinen neuen Roman „Vor dem Fest“ mit dem Leipziger Buchpreis geehrt worden. In seinem Buch erzählt der Autor die Geschichte eines Dorfes in der Uckermark.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Feste sind ein dankbarer Stoff für die Literatur. Nicht von ungefähr haben ihn in diesem Jahr gleich zwei Romane im wackeren Wettstreit um den Preis der Leipziger Buchmesse aufgegriffen. Martin Mosebach lässt zum Höhepunkt des unheilssatten Großbürger-Bacchanals seines Frankfurter „Blutbuchenfests“ das jugoslawische Pulverfass explodieren. Die eruptive Gewalt dieses Ereignisses wiederum hat einst den in Bosnien geborenen Autor Sasa Stanisic nach Deutschland verschlagen und sein fulminantes Debüt „Wie der Soldat das Grammofon repariert“ durchschüttert. Nun, knapp acht Jahre später, folgt sein zweiter Roman, „Vor dem Fest“ und beschert ihm mit dem Gewinn des Leipziger Buchpreises allen Grund zu feiern. Stanisic heftet diesmal sein Ohr an den Boden der märkischen Erde, um dort die leisen Signale, Botschaften, Erschütterungen einer anderen Geschichte einzufangen, einer, die ganz nah ist und doch weit zurückreicht und die lange Nacht ausfüllt, die dem großen Ereignis im Leben der Bewohner des kleinen Dorfes Fürstenfelde irgendwo in der Uckermark vorausgeht.

 

Doch bevor wir uns in die Zurüstungen jenes Annenfestes vertiefen, von dem Stanisic erzählt, sei ein kurzer Blick in den zeremoniellen Kalender der deutschen Gegenwartsliteratur geworfen. Andreas Maiers „Wäldchestag“ wäre da etwa zu nennen, der erste Anstoß für das regionalgeschichtliche Großprojekt, das seine Romane seither Stück für Stück in den Stollen der Erinnerung treiben. Oder Stephan Thomes „Grenzgang“, der in den zeitenthobenen Zyklen eines hessischen Brauchs die schmerzlichen Male resümiert, die die Zeit zwischen den Festen den Feiernden geschlagen hat. Hier wie dort durchpulst der Rhythmus kollektiver Riten den müden Kreislauf des demolierten Alltags.

Im Resonanzraum der Geschichte

Für die Ausnahmezeit des Festes darf die Literatur noch einmal aufs Ganze gehen, Kontingenz und Hässlichkeit der Gegenwart unter einen mythischen Verdacht stellen und das dumpfe Alltagsgemurmel im Resonanzraum der Geschichte bedeutungsvoll verstärken. Eine Nacht noch, dann ist es in Fürstenfelde soweit. Fürstenfelde, das sind zwei Seen, keine Tankstelle, dafür eine Garagenkneipe – und ein Häuflein merkwürdiger Wesen, das von den Wellen der Landflucht überspült und zurückgelassen wurde. Zu ihnen zählen ein lahmer Glöckner, der seinen Einsatz stets um Stunden verpasst, ein toter Fährmann, Herr Schramm, ehemaliger Förster, jetzt Rentner, eineinhalb verschlafene Neonazis und junge Leute, denen es entweder die Sprache verschlagen hat oder die im Gegenteil bisweilen mit der Erzählstimme eins werden.

Letzteres könnte auf Johann passen, der am Tage des Annenfests die Glöcknerprüfung abzulegen gedenkt. Vielleicht ist er es ja, der den Leser an der Hand nimmt, ihn vertraulich duzt und mit den Gegebenheiten jenes „wir“ bekannt macht, das sich da anschickt, ein Fest zu feiern, von dem niemand so genau weiß, was sich dahinter verbirgt: „Nichts jährt sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns davon erzählen.“

Sternfunkelnde Prosaminiaturen

Erzählt wird hier allerhand. Von jener anderen Anna, die in dieser Nacht mit ihrer Jugend auf dem Land abschließt, und Herrn Schramm daran hindert, dasselbe gleich mit seinem Leben zu tun. Von dem Schweinezüchter Gölow, der von Alaska träumt, alljährlich sechs Ferkel für das Fest spendet, aber eines davon begnadigt. Von dem Wunderferkel, das im Jahr 1587 das Licht der Welt mit einem Menschenkopf erblickte. Von der neunzigjährigen Heimatmalerin Ana (sic) Kranz, die es aus dem Banat hierher verschlagen hat, die Zigarre raucht, Bilder malt mit Titeln wie „Bürgermeister Heinz Durden nach der Entenjagd“ und sich für diese Nacht ihr feinstes Kleid angezogen hat, damit nun aber merkwürdigerweise in den See gestiegen ist, um ausgerechnet dort ihr letztes Werk zu schaffen. Und von einer Füchsin, die sich auf den Weg macht zum Hühnergehege des ehemaligen Briefträgers Dietzsche, von dem man sagt, er habe noch zu DDR-Zeiten nicht nur die Fürstenfelder, sondern auch die Stasi mit Post versorgt; jetzt ist er nicht mehr Herr der Briefkästen, sondern einer Eierbox, und auf die hat es die Füchsin abgesehen, um ihren Welpen noch einmal etwas Gutes zu tun, bevor sie für immer den Bau verlassen.

„So eine Nacht ist das“ – dieser Satz hält das beinahe somnambule Gefüge sternfunkelnder Prosaminiaturen lose zusammen. Ansonsten ist hier alles in Bewegung. Grenzen lösen sich auf, zwischen Mensch und Natur, zwischen Räumen und Zeiten, Leben und Tod. Und mit wahrhaft grenzenloser Fantasie treibt Sasa Stanisic seine erzählerischen rites de passage über die Schwellen der Sprache hinaus. Er schreibt gleichsam in Zungen: Das klingt mal nach früher Neuzeit, mal nach deutschem Hip-Hop, mal nach DDR, mal nach hoher Dichtung und mal nach schwieriger Sozialprognose. Wie in Drachenblut gebadet versteht man endlich das komplizierte Seelenleben der Füchse, was in ihnen vorgeht, wenn sie sich in Todesgefahr ein gestohlenes Ei auf der Zunge zergehen lassen oder die Witterung eines Wolfs aufnehmen.

Die Erfindung der Geschichte

Die Hüterin aller Geschichten aber ist Frau Schwermuth, Johanns Mutter. Ihr untersteht das Haus der Heimat. Hier verwahrt sie die Zeugnisse zur Historie Fürstenfeldes. Was man so verwahren nennt. Denn wie jede Erzählung lektoriert werden muss, so auch jene große über die Vergangenheit. Und Frau Schwermuth geht sehr frei mit dem Text um.

Darin liegt Methode. Ist unsere Gegenwart eine von Einwanderung und Vielstimmigkeit Geprägte, erfindet Sasa Stanisic die dazugehörige Geschichte. Sie ist verwinkelt wie ein Fuchsbau, die verschiedensten Wesen tummeln sich darin, und wenn man Glück hat, funkelt irgendwo der sagenhafte Güldenstein durchs Dunkel. Eine Gemeinschaft, die sich auf diesem Grund einrichten würde, bedürfte nicht mehr solcher Aktionen wie das antifaschistische Radfahren, mit dem Frau Schwermuth den Tag des Festes beginnt. Ach ja, das Fest. Fast hätten wir das vergessen. Nichts besonderes. Alles wie immer. Ein Schwein wird verschont.