Zum 100. Mal findet dieses Jahr in Markgröningen (Kreis Ludwigsburg) der Schäfertanz statt – mit so vielen Tänzern wie noch nie. Warum ist das Brauchtum bei jungen Menschen so beliebt?
Eigentlich ist es Quatsch, dass der Schäferlauf in Markgröningen offiziell erst am Freitag beginnt. Denn auf dem Stoppelfeld ist am Donnerstagabend schon die Hölle los. Dabei findet nur die Probe für den Schäfertanz statt. „Für die Markgröninger beginnt der Schäferlauf heute schon“, sagt Annika Heinkele. Sie ist eine der Tänzerinnen – und trägt so dazu bei, dass eine 100 Jahre alte Tradition weiterlebt.
„Ich bin hier von klein auf reingewachsen“, sagt die 25-Jährige. „Für mich war der Tanz schon immer faszinierend.“ Ausnahmslos alle, die beim Tanz mitmachen, antworten so. 16 Paare sind es üblicherweise, die dem Siegerpaar des Schäferlaufs am Wochenende mit dem Tanz die Ehre erweisen. Zum 100-jährigen Jubiläum tanzen doppelt so viele mit. Der Schäfertanz-Verein hat derzeit 85 aktive Mitglieder, so viele wie noch nie. Es bekommen also nicht einmal alle Aktiven einen Platz. Wie kann das sein? Sind solche Brauchtümer nicht eigentlich auf dem absteigenden Ast?
Schon bei der Probe sind die Tribünen voll
„Als Schüler war ich Blumenjunge, dann Fahnenträger. Danach kam ich zur Landjugend und habe so den Schäfertanz kennengelernt“, erzählt Alexander Schütt, 24 Jahre alt und Annika Heinkeles Tanzpartner. „Man spürt, wie die Zuschauer den Tanz feiern und mitleben. Davon möchte man ein Teil sein.“ Das trifft den Kern dessen, was auf dem Stoppelacker passiert, gut. Selbst bei der Probe am Donnerstag, als noch niemand Tracht trägt, sondern alle in Trainingskleidung tanzen, sind die Tribünen voll und die Menge jubelt über jede Figur.
Dabei ist „tanzen“ eigentlich das falsche Wort, der Schäfertanz ist ein sogenannter „Hopf“. Es ist kein klassischer Pärchentanz, es gibt keine Schrittfolgen oder Hebefiguren. Gewissermaßen joggen die Paare zur Blondin-Polka von Carl Michael Ziehrer im Gleichschritt mit angezogenen Knien über das Feld. Die Kommandos geben die Vortänzer mit Pfiffen, dann zeigen die Tänzer Figuren, haken sich beispielsweise unter und drehen sich in einer langen Linie über das Feld – das wird vom Publikum mit besonders lautem Applaus honoriert.
„Gerade am Anfang kann der Tanz überfordernd sein“, sagt Annika Heinkele. „Und es ist auch konditionell eine Herausforderung“ – zwischen 15 und 20 Minuten dauert der gesamte Hopf. Das Ganze ist in der Vorbereitung mit einigem Aufwand verbunden, in der Zeit zwischen Ostern und dem Beginn der Sommerferien finden zwölf Proben statt, kurz vor dem Schäferlauf wird dann noch mal intensiver trainiert.
Wer einen Platz im Reigen bekommt, entscheiden die Vortänzer und der Schäfertanz-Ausschuss. „Wer öfter zur Probe kommt, hat auch eher die Chance auf einen Platz“, erklärt Heinkele und Schütt fügt hinzu: „Es ist ein bisschen wie im Fußballverein. Da steht auch nur der auf dem Platz, der ins Training kommt.“
Mitmachen kann jeder, der mindestens 16 Jahre alt ist und in Markgröningen wohnt – theoretisch. In der Praxis sind die Plätze begehrt, so sehr, dass es Wartezeiten gibt. Bei Annika Heinkele waren es drei Jahre, bei Alexander Schütt wegen der Corona-Pandemie sogar vier. Wenn man einmal dabei ist, bleibt man im Regelfall bis zum Alter von 26 oder 27. „Man möchte ja, dass die Jungen nachkommen, dass der Schäfertanz nicht altert“, erklärt Schütt. „Es ist einfach eine Sache der jungen Leute in Markgröningen.“
Der Schäfertanz – und wohl auch der Schäferlauf als Ganzes – ist eines dieser Ereignisse, das in die Kategorie „Da muss man dabei gewesen sein“ fällt. Es ist kaum möglich, wirklich nachzuvollziehen, was in diesen Tagen am Stoppelfeld und in der Stadt passiert, ohne dass man selbst dort war. Schon bei der Probe für den Tanz am Donnerstagabend liegt eine gewisse Stimmung in der Luft, es ist zu spüren, dass hier etwas beginnt, worauf eine ganze Stadt ein ganzes Jahr lang hinfiebert.
„Manche Leute, die aus Markgröningen weggezogen sind, sieht man nur einmal im Jahr: am Schäferlauf“, sagt Annika Heinkele. Und diejenigen, die hier bleiben, zeichnet häufig eine besondere Verbindung zu ihrer Stadt aus: „Es gibt ganz wenige Markgröninger, die nicht in irgendwelchen Vereinen engagiert sind“, erklärt sie. Die Vereine wiederum sind beim Schäferlauf mit eigenen Ständen aktiv, ihre Mitglieder sind so automatisch mit dem Fest verwoben.
„Das Arbeiten gehört einfach dazu“, sagt Heinkele – der Tanz bleibt für sie trotzdem die Krönung des Ganzen. „Die Tracht, die Farben, das Gefühl, wenn man fix und fertig auf dem Stoppelfeld steht und alle einem zujubeln. Das macht es aus.“