Bei Schalke 04 ist dicke Luft: Der Bald-Bayer Leon Goretzka wird von den eigenen Fans ausgepfiffen. Zerstört sich der Club vor dem Gastspiel beim VfB Stuttgart selbst?

Gelsenkirchen - Es war eine erstaunliche Formulierung, die Domenico Tedesco am Sonntagabend eingefallen war, um die Unruhen zu beschreiben, von denen das 1:1 des FC Schalke gegen Hannover 96 begleitet wurde. „Sehr fair“, sei das Publikum gewesen, sagte der Gelsenkirchener Trainer, „das war sanft, nichts Brisantes“. Offensichtlich hatte Tedesco noch stürmischere Proteste erwartet, nachdem Leon Goretzka sich entschieden hat, seinen im Sommer auslaufenden Vertrag auf Schalke nicht zu verlängern und sich dem FC Bayern anzuschließen.

 

Der Mittelfeldspieler war bei jedem Ballkontakt ausgepfiffen worden, es hatte Beleidigungen gegeben, „1000 Freunde im Stich gelassen, für emotionslose Titel und oberflächliche Lackaffen“, stand auf einem Banner. Und die Nordkurve hielt eine großes Plakat in die Höhe, auf dem stand: „Weder Kohle noch Titel sind mehr wert als unser Verein! Wer das nicht schätzt, kann sich sofort verpissen.“

Dass Tedesco diese Proteste „sehr fair“ fand, zeigt, wie groß die Furcht der Schalker vor den Fundamentalisten aus den eigenen Reihen ist. Das Team spielt ja eine wunderbare Saison, ist beflügelt von einer Aufbruchstimmung, hat ein fußballerisches Konzept, die Gruppe funktioniert. Es gibt gute Gründe, von der Rückkehr in die Champions League zu träumen.

Tönnies heizt die Stimmung an

Und nun fangen sie an, diese wunderbare Ausgangslage selbst zu beschädigen. Goretzka sagte, dass er solche Reaktionen zwar erwartet habe, aber „wenn einen die eigenen Fans auspfeifen, tut das natürlich weh“. Wie ein dunkler Schatten lag der Goretzka-Ärger über diesem zähen Spiel gegen Hannover 96. Bastian Oczipka fand, dass die Atmosphäre „schon anders als in der Hinrunde“ gewesen sei, „sehr ruhig“.

Die Wucht des Publikums, die dem Team an guten Tagen ein paar Prozent zusätzlicher Energie entlockt, fehlte – Clemens Tönnies hatte es schon am Vormittag geahnt. Da war der Aufsichtsratsvorsitzende zu Gast in einer Fußball-Talkshow und hatte damit gedroht, „dass Leon bis Saisonende auf der Tribüne sitzt“, wenn sich seine Anwesenheit negativ auf die Stimmung im Stadion auswirke. Außerdem erzählte Tönnies von seiner ersten spontanen Reaktion, die Goretzkas Entscheidung in ihm ausgelöst hatte. Er habe gedacht: „Du solltest das Trikot von Schalke 04 nicht mehr tragen.“

Mit diesen populistischen Äußerungen hat er die Macht der Extremisten weiter gestärkt und den Spieler geschwächt, der ja nichts für die Wut unter den Anhängern kann. Vielmehr hat er glaubhaft versichert, sich bis zum Saisonende zu „zerreißen und alles in die Waagschale zu werfen“. Die Schalker beendeten die Hinrunde ja vor allem auf Platz zwei, weil sie zusammenhielten, und viele Konkurrenten durch Europapokalbelastungen oder irgendwelche Krisen gebremst wurden. Beide Vorteile drohen nun verloren zu gehen, daher werden die Schalker all ihre fußballerische Qualität brauchen, um einen der drei Plätze hinter dem FC Bayern zu verteidigen.

Akt der Selbstzerstörung

Goretzka ist zweifellos ein Spielertyp, der durch starke Leistungen oder besondere Einzelaktionen genau die fünf, sechs Punkte in einem Halbjahr einspielen kann, die den Ausschlag geben werden. Am Ende könnte das 20 bis 30 Millionen Euro wert sein. Diesen Spieler nun zu schwächen, gleicht einem Akt der Selbstzerstörung. Die Angst vor den eigenen Fans ist sogar derart groß, dass sie nicht einmal einen sofortigen Wechsel ausschließen. Ein solches Szenario sei im Moment „kein Thema“, sagte Manager Christian Heidel zwar, aber „wenn Karl-Heinz Rummenigge morgen anruft, gehe ich trotzdem ran, höre ich mir an, was der zu sagen hat, und ich kann jetzt nicht sagen, ob ich ja oder nein sage.“

Der einzige, der wirklich klar wirkte in dieser seltsamen Mixtur der Gefühle zwischen Fanwut, Enttäuschung und Furcht vor einer emotionalen Negativdynamik war: der traurige Goretzka. „Viele Leute denken jetzt, dass das so ein Pokerspiel war“, warb er um Verständnis für seine Entscheidung, in Wahrheit habe er aber so viel Zeit benötigt, weil er in dieser für seine Lebensplanung essenziellen Entscheidung keinen Fehler machen wollte. „Ich habe versucht, in mich selber reinzuhören, was ich möchte, was meine Ziele sind“, erzählte er, „und jeder, der das mal bei sich selbst versucht, wird feststellen, dass das gar nicht so einfach ist.“

Man konnte diesen Worten einerseits entnehmen, dass der hochveranlagte Mittelfeldspieler Leon Goretzka sich wirklich gequält hat mit seinen Überlegungen, und dass er andererseits große Zweifel hat, dass der FC Schalke in den kommenden Jahren wirklich zu einem europäischen Spitzenclub reift. Es ist gut möglich, dass sein Wissen über die destruktiven Fans auf Schalke und den unberechenbaren Aufsichtsratsvorsitzenden dabei auch eine gewisse Rolle gespielt haben.