Stuttgart - Haben Sie auch einen Spotify-Account? Ein Konto bei Apple Music, beim Konkurrenten Google Play? Vielleicht hören Sie Ihre Musik auch bei Tidal oder Amazon. Eigentlich ist es egal, bei welchem der genannten Dienste Sie eingeschrieben sind. In jedem Fall haben Sie Zugriff auf Millionen Songs, jederzeit und überall – zumindest solange die Internetverbindung gut genug ist.
Dieser Text soll Ihnen nicht die Freude an der fast grenzenlosen Musikauswahl nehmen. Das wäre schon deshalb unfair, weil ich selbst bei fast allen der genannten Dienste Nutzerkonten habe und zudem regelmäßig bei Soundcloud und Bandcamp Musik höre. Dort gibt es noch weitere Millionen Titel, die andere nicht im Programm haben, oft von weniger bekannten Künstlern. Ich mache dort immer wieder wunderbare musikalische Entdeckungen, zuletzt den bayerischen Musiker Nikolaus Wolf, dessen Songs mich an Oasis erinnern.
Werden wir es bereuen, wenn der Tonträger verschwindet?
Aber es geht hier nicht um all die gute Musik, die man hören kann – sondern darum, wie und wo man sie hört. Auf Streamingnutzer kann ich nicht glaubhaft schimpfen, auch wenn ich für keinen der genannten Dienste Geld bezahle. Stattdessen möchte ich eine Lanze brechen für das Musikhören von Schallplatte, CD, meinetwegen auch Kassette, Schellack oder Tonband.
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Wenn Sie an dieser Stelle aufhören zu lesen, weil ich dafür vor allem ganz individuelle Gründe anführe – ich will es Ihnen nicht verübeln. Trotzdem ist jetzt, wo Streaming schon ein Viertel aller Musikumsätze in Deutschland ausmacht, ein guter Zeitpunkt, um einmal über diese Frage nachzudenken: Was hat der Musikgenuss mit dem Kanal zu tun? Was ändert sich, wenn der Tonträger verschwindet? Und werden wir das irgendwann bereuen?
Ein ganzes Album? Lohnt sich nicht mehr
Zunächst verändert das Streaming die Musik selbst. Ein ganzes Album zu veröffentlichen lohnt sich weniger als viele Singles hintereinander. Das Stuttgarter Label Chimperator, wo unter anderem Cro unter Vertrag ist, hat unlängst angekündigt, künftig nach dieser Logik zu arbeiten. Alben erscheinen vielleicht noch, aber der Termin richtet sich nach den Streamingzahlen. Man kann das schlecht finden, weil mit dem Album ein popmusikalisches Fixum verloren geht – muss man aber nicht. Dazu kommt der Klangaspekt. Streaming kann gut klingen, Hifi ist es dennoch nicht. Spotify hören viele vor allem am Smartphone, darauf optimieren Mastering-Studios das Hörerlebnis. Dazu kommt, je nach Bandbreite, die heruntergerechnete Soundqualität. Das klingt selbst auf Anlagen, die keine 10 000 Euro kosten, nicht so gut wie das Knistern der Schallplatte oder der für hochwertige Technik gemischte CD-Sound. Wirklich auffallen wird uns das aber erst in einigen Jahren.
Für mich ist ein anderes Argument bedeutsamer: Wenn mir Musik wirklich gut gefällt – ich lasse mich gern begeistern, vor allem von Unerhörtem –, dann möchte ich auf diese Klänge als flüchtigste aller Kunstwerke physisch Zugriff zu haben: als CD, als Schallplatte, meinetwegen als in einer Matrjoschka verpackter Download-Code. (Die isländische Band Grúska Babúska hat ihr Album auf diese Weise veröffentlicht, leider war es bei meinem letzten Besuch auf Island schon vergriffen.)
Kein Plattenspieler, aber Platten kaufen
Das ging bis jetzt fast immer gut. 2012 konnte ich den wunderbaren Song „Maybe You“ von Say Lou Lou nur auf einem Sampler finden. Das war aber die Ausnahme. Erst vergangenes Jahr musste ich bei Yung Hurn klein beigeben. Der Wiener Rapper, der den Pop der 80er zitiert und bekiffte Halbsätze ins Mikro ruft, ist Teil der Cloud-Rap-Szene. Mit der richtet sich erstmals eine relevante popmusikalische Bewegung konsequent an ein (junges) Publikum – eines, das Tonträger als Ballast betrachtet, sein Geld lieber für teure Fanartikel ausgibt und Musik am Smartphone hört. Die Kokserhymne „Bianco“, die Yung Hurn mit dem Bietigheimer Rapper Rin eingespielt hat, wurde zwar auf Schallplatte veröffentlicht – Auflage 500, L iebhaberpreis aktuell: 200 Euro. Das ist mir dann doch zu viel.
Ich erwarte natürlich kein Mitleid. Aber die Cloud-Rapper machen vor, was bald häufiger werden dürfte: dass Musiker gar nicht mehr zum Ziel haben, ihre Werke auf einem hübsch gestalteten Tonträger zu veröffentlichen. Warum auch, schon im Jahr 2016 hörten nur noch vier von zehn Teenagern Musik vom Tonträger, alle anderen im Radio, auf Youtube oder Streamingdiensten. Auf dem Tonträgermarkt bleiben irgendwann bloß Wiederveröffentlichungen, Stammkäuferprodukte wie die Bravo Hits oder Helene Fischer – eben etwas für ältere Hörer. Es wird irgendwann keine Selbstverständlichkeit mehr sein, aktuellste Popmusik zu realistischen Preisen auf einem Tonträger erwerben zu können.
Heute hallt die alte Zeit aber noch nach. Extremmusikhörer in meinem Freundeskreis erzählen mir, dass sie Platten oder CDs kaufen, um die Künstler zu unterstützen. Ein Abspielgerät haben sie indes nicht mehr. Seltsam? Ja – aber irgendwie auch nicht. Das ist weiterhin das stärkste Argument für den Tonträgerkauf: Man hat etwas in der Hand, im Idealfall etwas Schönes. Da steckt viel Mühe drin: die Suche nach dem perfekten Covermotiv, die Gestaltung des Booklets, die Materialwahl für die Hülle – Karton, Plastik oder ganz was anderes?
Eine traurige Geschichte vom Flohmarkt
Faszinierend ist, wie viel Zeitgeist in jedem Plattencover steckt. Die alten Roxy-Music-Alben zum Beispiel: vorne auf dem Cover die in satten Farben gedruckten, überinszenierten Modelfotos. In den Originalhüllen stecken die damals üblichen, fast biegbaren Schallplatten, in den Nachpressungen das aktuell beliebte, schwere 180-Gramm-Vinyl. Beim Sound geht es weiter. Heute noch hört man der 1985 erschienenen Originalversion des Dire-Straits-Longplayers „Brothers in Arms“ an, mit welchen Argumenten dieses Album dem Medium CD zum Durchbruch verhelfen sollte (für die Hörer: kristallklare Digitalaufnahme und längere Laufzeit, für die Industrie: höhere Gewinnspannen). Jedes Tonträgerformat hat seinen Sound: die lauten, für die Discos produzierten Dance-Maxis, der eiernde Klang der Kassette, die Singles aus den 60er-Jahren, die für die Klangeigenschaften von Jukeboxen optimiert wurden.
Ein Relikt sind auch die Namensaufkleber mit goldglänzender Umrandung in den Ein-Euro-Regalen am Flohmarkt, die auf frühere Besitzer hinweisen. Ebendort, auf dem Flohmarkt am Stuttgarter Karlsplatz, wurde ich vergangenen Sommer Zeuge einer traurigen Unterhaltung. Eine Frau kam zu einem Plattenhändler und fragte, ob der ihre Vinylsammlung abnehmen wolle. „Ich würde sie Ihnen auch schenken! – „Ja ja, bringen Sie sie mal vorbei.“ – „CDs habe ich auch.“ – „Die kauft mir keiner ab. Schmeißen Sie sie weg.“
Das sind Sätze, die wehtun. Genau einen Tonträger habe ich in meinem Leben weggeworfen. Ich hatte Anfang der Nullerjahre auf Ebay die CD-Sammlung eines Privatmanns ersteigert. Da war viel Gutes dabei, nur für das Album der Kelly Family hatte ich wirklich keine Verwendung. Als der Plattenhändler das Ding nicht mal geschenkt wollte, landete die CD im Mülleimer (die Hülle behielt ich, die war noch gut). Selbst zu diesem Rausschmiss musste ich mich überwinden, schließlich hat sich auch die Kelly Family mit ihrer Musik Mühe gegeben und ich vernichtete mit „Over The Hump“ ein wichtiges Zeitdokument der Popkultur der 90er-Jahre. Zumindest eine von Millionen Kopien davon. Viele weitere finden sich bis heute in den Wühltischen der Second-Hand-Plattenläden. So wie übrigens Unmengen von James-Last-Schallplatten, warum auch immer.
Platten kaufen und Cappuccino trinken
Zumindest um die Schallplatte muss man sich derzeit nicht sorgen. Die Verkaufszahlen steigen wieder, das wird als Rückbesinnung zum Haptischen in digitalen Zeiten interpretiert. Manche mögen auch einfach den Plausch im Plattenladen am Samstagvormittag, zu dem man beim Stuttgarter Laden Ratzer Records einen exzellenten Cappuccino serviert bekommt. Oder die Tipps der Insider von Second Hand Records, dank denen man bei jedem Besuch neues musikalisches Terrain erkunden kann. Oder die stets erhebende Praxis, einen Tonträger aus der Hülle zu holen, ihn auf den Plattenteller zu legen, die Nadel an die Rille zu führen – und dann nichts zu tun als zu hören, sich mitnehmen zu lassen von der Musik, fröhlich, traurig, nachdenklich zu werden.
Für solche Bedürfnisse gibt es natürlich längst digitale Pendants. Zum Aufwachen klickt man die „Guten Morgen“-Playlist bei Spotify an, Beschreibung: „Das Croissant duftet, der Milchkaffee dampft & mit dieser Playlist bekommst du die passende Musik dazu“. Dass da beim Hörer in Wahrheit gar nichts dampft und duftet – geschenkt, man will ja nur etwas zum Munterwerden. Musik als Emotionsdienstleister, von Algorithmen katalogisiert: Das ist praktisch, fasziniert und funktioniert. Aber es ist auch öde. Und einsam. Derartige Stimmungsregulierung erfolgt zumeist am Kopfhörer oder daheim, wenn gerade keiner da ist, mit dem zusammen man aufwacht oder ganz bewusst Musik hört.
Das alles kann kein Algorithmus und kein Spotify
Mir gefällt etwas anderes. Ich mag es, mit meinem ehemaligen Bandkollegen Simon vor meiner Plattensammlung zu stehen und jeder schaut nach Musik, die man als nächstes abspielen und über die man sprechen kann. Ich mag es, für meine Frau genau das Album aus dem Regal zu holen, das in diesem Moment passt und vielleicht sogar etwas mit unserer gemeinsamen Lebensgeschichte zu tun hat. Ich mag es sogar, keine Ahnung zu haben, was ich eigentlich hören will – und dann die Lieblings-CD wiederzuentdecken, die immer im Kinderzimmer lief und die mich schon beim Herausholen in diese Zeit zurückversetzt.
Das alles kann kein Algorithmus und kein Spotify, dafür braucht es Platz, Zeit und Geld. Die allerdings sind gut investiert, denn Musik (und wie sie präsentiert wird) ist Teil unseres Lebens. So wie ich bis heute meine liebsten Bilder in Fotobüchern ausdrucke, um sie jederzeit unabhängig von kaputten Festplatten herausziehen können, stelle ich mir die Musik ins Regal, die mir wichtig ist. Weil sie mir wahrscheinlich auch in Zukunft wichtig sein wird.
Was wird den Menschen bleiben, die im Herbst zu Hunderttausenden Bausas Generation-Z-Hymne „Was du Liebe nennst“ gestreamt haben, die sich dazu verliebt, geküsst, gestritten, getrennt haben? Die Erinnerung daran, sicher. Die Musik womöglich nicht. Die wenigsten von ihnen haben den Song als CD-Single (in diesem Format wurde er tatsächlich veröffentlicht) oder das im Februar erschienene Album „Superbausa“ gekauft. Wenn sie Glück haben, wird es Streamingdienste in zwanzig, dreißig Jahren immer noch geben, und dieser Song wird weiterhin nur einen Klick entfernt sein. Trotzdem kommt er einem nie so nah wie im Plattenregal im Wohnzimmer – bei der Musik, die unser Leben geprägt hat und die wir nie mehr hergeben wollen.
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