Christoph Biermeier inszeniert auf der großen Treppe in Schwäbisch Hall Goethes „Faust“. Bei Klassikern dieser Größe ist es nicht immer zu erwarten, doch Biermann schafft es: sein Inszenierung überzeugt durch und durch.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Schwäbisch Hall - Da nahen sie sich, die schwankenden Gestalten: aus den Tiefen hinter St. Michael, vom barocken Rathaus her, aus den alten Gassen am Markt von Schwäbisch Hall streben sie langsam der alten Gestalt entgegen, die da mitten auf der Großen Treppe vor einem mächtigen, aber abgestorbenen Baum und seinen kläglich abgestützen Ästen Verse rezitiert. Ist es schon der Faust oder hören wir noch den Autor? Und was macht den Unterschied?

 

„Zueignung“ heißt das Gedicht, das Johann Wolfgang von Goethe einst seiner weit ausholenden Tragödie voranstellte: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten“, die Figuren und Bilder, die Produkte seiner Fantasie, „die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt. Versuch ich wohl, euch diesmal festzuhalten?“ Nun, diese Frage scheint für Christoph Biermeiers große „Faust“-Inszenierung zum Auftakt der diesjährigen Haller Freilichtspiele entschieden: Wie Zombies, also äußerst zielbewusst streben seine Geschöpfe ihrem Schöpferhirn entgegen. Und so bunt und folklorististisch ihre Aufmachungen auch auf den ersten Blick scheinen mögen, auf den zweiten offenbaren sich an den Gestalten mannigfache Verzerrungen und Verwüstungen, Fratzen und Narben, Wülste und Stümpfe, Krallen und Schorf.

Wenn es ans Planen von Freilichtspielen geht, kommt man ja aus gewissen Zwängen um die großen Stücketitel, um die vom Publikum immer noch nachgefragten Klassikernamen kaum herum, gerade auch in Schwäbisch Hall mit seiner ebenso monumentalen wie eigenmächtigen Treppe. Keine Frage, so gerät ein „Faust“ früher oder später ins Programm. Wenn aber der Freilichtspielintendant Christoph Biermeier persönlich solche Klassikeraufgaben übernimmt, kann man sicher sein, es wird ihm bereits mit dem ersten Bild und in den ersten Minuten gelingen, all unsere über Jahre und Jahrzehnte hinweg gewachsenen „Faust“-Erwartungen auf den Kopf zu stellen. Er zeigt uns Figuren, die wir so noch nie gesehen haben. Und just da wir ihrer angesichtig werden, ahnen wir: eigentlich waren sie schon immer da.

Ein käsig geschminkter Mephisto im Frack und mit weißen Pudeln

Und dabei wirkt bei Biermeier noch die größte Kunst nie künstlich aufgesetzt oder thesenhaft verbaut. Es ist ja eigentlich alles so, wie es das Stück vorsieht. Wir haben in Hall den zweifelnden, erst mal lange Zeit am liebsten ganz in Ruhe für sich monologisierenden Faust im weiten Mantel, wir haben einen käsig geschminkten Mephisto im Zirkusdirektorfrack, wir haben Ostermorgen und Teufelspakt, wir erfreuen uns sogar an einem hochgewachsenen, hübsch gelockten Pudel, der nach diskreter Zufuhr weniger Leckerlis äußerst elegant die 54 schmalen Stufen vom Platz zur Kirche hinaufschreitet. Wir haben später auch ein niedliches Gretchen und eine dralle Marthe, einen verzweifelten Valentin und eine Horde stellungsstarker Hexen. Alles da.

Aber was nun dazukommt, das sind diese Traumbilder. Da ist oben in der Krone des toten Baumes ein riesiger schwarzer Engel, der immer wieder zu singen beginnt. Da sind die Studenten bei Auerbach, die ihre evolutionäre Entwicklung vom Burschenschaftler zum Skin auch musikalisch konsequent abgeschlossen haben („Oi, oi!“). Da bricht das Spiel plötzlich für einige Augenblicke ab, und über den Platz weht süßes Kleinkindbrabbeln, während ein roter Luftballon vom Kirchplatz oben gen Himmel steigt. Da strampelt der Teufel auf einem Fahrrad, um jene Glühbirnchen zum Leuchten zu bringen, die es Faust und Gretchen bei ihrem ersten Kuscheln hübsch heimelig machen sollen. Da bedrängt schließlich nicht nur ein Lieschen das jungen Gretchen mit schrecklichen Geschichten von urplötzlich schwanger gewordenen und auf ewig verdammten, unverheirateten Mädchen, nein, da sind ihrer sechs, und diese beißen immer wieder in Äpfel, und ihre Gehässigkeiten schießen und spritzen wie schlimme Waffen durch die Welt.

Hennig Bormann nimmt sich kein Vorbild für seinen Faust

Und wer sich vielleicht irgendwann zwischendurch fragt, woher sie eigentlich kommen, all diese großartigen Bilder, der kann, abgesehen von der in puncto Ausstattung offenbar kongenialen Zusammenarbeit mit José Eduardo Luna, eigentlich nur auf eine Antwort kommen: Doch, auch das ist im Stück. Man muss es nur so lesen wie Biermeier mit seinem Team. Hier werden keine Brüche geschnitten oder Konzepte verstülpt oder Wendemarken der Interpretationsgeschichte angesteuert. Christoph Biermeiers größte Regiestärke ist zweifellos, dass er sich in erster Linie in die Geschichte gräbt. Und da findet er sie, diese abgeratzten Figuren, diese verstörenden Szenen wie im Kino, aber auch diese poetischen Momente. Er bereitet uns so die größten Überraschungen. Und kann uns sogar beim Osterspaziergang des Volkes ein bitterböses Menetekel aufnötigen an jene Landeshauptstadt, in der Bürger schon mal Angst haben mussten, von ihrem voll Aufbruchsenergie motivierten Gang durchs Grüne mit blutig geschossenen Augen wieder heimzukehren.

Dass es einer derart inspirierten Regie gelingt, ein vielköpfiges Ensemble völlig ausgeglichen und mithin stark auf die Bühne, Pardon: auf die Treppe zu bringen, verwundert da kaum noch. Henning Bormann als Faust nimmt sich zum Glück niemanden zum Vorbild, sondern gestaltet die Rolle des ruhelosen Rackers sehr modern, sehr aktuell aus ganz eigener Kraft und Vorstellung. Vilmar Bieri ist dazu ein immer wieder überraschender, exotischer, aber nie überdreht-überzogener Mephisto.

Margarethe ist am Ende vom Hass überwältigt

Die große Überraschung des Abends ist aber zweifellos Elmira Bahrami als Margarethe, deren Nachname im Programmheft den Zuschauer bereits völlig zu Recht ahnen lässt, dass er hier kein blondes Gretchen mehr zu sehen bekommt. Nein, Bahrami ist weder scheues Reh noch holde Unschuld. Sie ist ein junges Mädchen, von plötzlicher Liebe und Aufbruchswillen zunächst beseelt, später von Erschütterung, dann von Hass schlicht überwältigt. Bisher hat der Autor dieser Kritik keine einzige „Faust“-Inszenierung erlebt, sie mochte noch so gut sein, in der nicht zum Schluss beim allzu berühmten „Heinrich, mir . . .“ irgendein Zuschauer kichern musste. In Hall nicht. Hier macht Bahrami den Satz als Ausdruck tiefster Abscheu zum finalen Hieb: weg mit dir. So jemand wie „du“ braucht einen zweiten Teil.

Überhaupt, das letzte Bild, nun schon zu später Stunde. Die über die Treppe hin und her irrende Margarethe. „Gerichtet? Gerettet?“, fragt sie immer wieder. Dazu eine Prozession dunkler Figuren von der Kirche herab. Der schwarze Engel, der das besänftigende Urteil doch verkündet, dem aber offenbar keiner glauben mag. Und schließlich kehrt auch unser Autor vom Anfang wieder zurück zu seinen Geschöpfen. Er sagt seine Verse nicht mehr, aber wir müssen an sie denken: „Was ich besitze, seh ich wie im Weiten, / Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“ Summa summarum: Dunkelheit. Aber doch auch Licht.