Mit zwei Premieren hat das Stuttgarter Schauspiel im Nord das Großprojekt „Abschied von gestern“ gestartet. In Stücken von Schnitzler und Petras/Tschechow wenden sich die Figuren vom Leben ab – doch es lohnt sich, ihnen dabei zuzuschauen.

Stuttgart - Ein angebissener Keks liegt im Foyer des Nords. Gut zwei Meter reckt sich dort das zur Erinnerungsskulptur umgemodelte Holzregal in die Höhe – eine Ablage für all die Dinge, die seit Jahr und Tag in den Köpfen und Wohnungen der Theaterbesucher vor sich hin modern und von denen sie sich nun verabschieden wollen. So weit die Idee. In Wirklichkeit liegen auf dem Regal bislang eine alte Hose, ein Paar Stiefel und naja, eben dieser besagte, halbaufgegessene Keks. Doch so skurril das auf den ersten Blick aussehen mag: eine besondere Art des Abschieds ist es trotzdem.

 

Auch zum ersten Premierenwochenende des Projekts „Abschied von gestern“ trug der Neuanfang im Nord ungewöhnliche Gewänder. Auf der Bühne verabschiedeten sich in „Fräulein Else“ und „wellenreiter oder my daughters running through my veines“ zwei starke Figuren von ihren Lebensentwürfen. Vor dem Theatersaal zelebrierte man das Ende hingegen als Neuanfang. Denn hinter dem Projekt steckt der Wunsch, aus der stiefmütterlich gelegenen Spielstätte einen Ort der Begegnung zu machen. Ganz einfach ist das natürlich nicht, denn hat man sich einmal durch die Autohäuser und Tankstellen zum Nord gequält, will man meistens möglichst schnell wieder weg. Der Heimweg ist schließlich noch einmal genauso lang. Das Projekt „Abschied von gestern“ soll die Zuschauermisere nun ändern – und zumindest an diesem Wochenende klingt das gar nicht mal so illusorisch. Vor Beginn der beiden Premieren sitzen die Zuschauer im Foyer und trinken Weißwein und Apfelschorle, nach den Vorführungen ziehen große Teile ein Stockwerk weiter nach oben und lassen den Abend an der Bar ausklingen – ein erster Etappensieg. Ob sich der Trend nach der Premieren-Euphorie allerdings fortsetzt, sei dahingestellt. Doch zumindest die beiden Stücke bleiben sehenswert.

Die vielleicht größere Überraschung der beiden Neuinszenierungen ist dabei Wolfgang Michaleks Regiedebüt „Fräulein Else“. Passend zum Gesamtkonzept steht auch hier gleich zu Beginn das Ende. Oder besser gesagt: der Tod. Das Schlafmittel Veronal soll Arthur Schnitzlers Fräulein Else endlich in den ersehnten Dämmerzustand versetzen, in dem der Weltekel sein Ende findet. Nur dass dieser Vorfall in Michaleks Inszenierung schon 34 Jahre her ist – und Else immer noch auf dem abgeratzten Diwan sitzt und sich in herrlich schnodderigem Zynismus über das pervertierte Frauenbild auslässt, dem sie damals zum Opfer fiel, als sie auf ein unmoralisches Angebot eingehen musste, das den Vater vor dem finanziellen Ruin rettete. In Schnitzlers Originaltext zerbricht Else am inneren Kampf zwischen Selbstbestimmung und Zwang der sexuellen Unterwerfung. Michalek übersetzt diese Tortur nicht nur aussagekräftig, sondern gibt der Figur dabei auch eine ganz neue Ebene: Mit intensivem Spiel entlarvt Rahel Ohm als Else die grotesken Weiblichkeitsvorstellungen der Gesellschaft. Sie ist aufsässig, kampflustig und oft so herrlich angewidert, dass man als Zuschauer fast lachen möchte. Doch im selben Moment spielt sie ihre Figur dann wieder als verlorene Schönheit, die an ihrem eigenen Zwiespalt zugrunde geht, und das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Dann steht sie in einem viel zu großen Satinkleid mitten in einem Meer aus roten Schuhen und verliert mit einem Mal all ihre Kanten. „Ich will nach Hause“, sagt sie leise zu irgendjemandem, der schon lange nicht mehr da ist. Ja, „Fräulein Else“ ist ein geradezu tragischer Abschied vom Leben. Doch in all seiner Melancholie ist Michaleks Regiearbeit auch ein Befreiungsschlag für ein entkoppeltes Weiblichkeitsklischee – etwas, von dem man sich wirklich mal verabschieden könnte.

Schaumschläger mit Zylinder

In Armin Petras’ „wellenreiter oder my daughter running through my veines“ steht Wolfgang Michalek hingegen selbst auf der Bühne: Er spielt Ivan, einen ewig lamentierenden Schaumschläger mit Zylinder und ergrauter Walle-Mähne. Eigentlich sollte er an diesem Abend einen Vortrag über die Schädlichkeit des Rauchens halten, doch so richtig etwas zu sagen hat er nicht. Stattdessen tänzelt der in die Jahre gekommene Möchtegerngelehrte ziellos über die Bühne, klaubt Worte zusammen, versteckt sich hinter Ironie und dreht lautstark irrelevante Gedankenfetzen im Kreis. Petras’ Inszenierung, die auf einem Text von Anton Tschechow beruht, lässt Ivan dabei in seiner brüchigen Selbstdarstellung so lange umhertreiben, bis das Zusehen fast unangenehm wird – und macht ihn so zum Paradebeispiel eines Typus, der moderner kaum sein könnte: charmant, wortgewandt, selbst in der Ausführung noch so abstruser Argumentationen irgendwie überzeugend. Doch in der Wortakrobatik des Pseudovortrags offenbart sich eine fast schon symptomatische Leere. Ivan ist verloren in einem Leben voller verpasster Möglichkeiten und hadert mit der ewigen Unfähigkeit, eine davon zu ergreifen – selbst wenn es nur um seinen Jugendtraum, das Wellenreiten, geht.

Im krassen Gegensatz dazu stehen Ivans sieben Töchter, die wie ein barocker Goldrahmen um den Vater drapiert sind. Denn sie sind in ihrer Spitzen- und Puderperfektion nicht nur äußerlich der Gegenentwurf zu ihrem verlodderten Herrn Papa. Nein, sie sind allesamt auch noch fast unerträglich talentiert: Die eine singt, die andere spielt Violine, zwei weitere sind beeindruckend präzise Akrobatinnen. Eigentlich stehen sie dort oben auf der Bühne, um den Vater während seines Vortrags zu unterstützen, doch mit ihren perfekt inszenierten Vorführungen werden sie stattdessen zum grotesken Zerrbild seines Versagens. Sieben Mädchen als herrlich barock aufgehübschte Exempel der Brillanz, die Ivan selbst nie erreichen konnte – das ist nicht nur klug gedacht, sondern auch beeindruckend inszeniert: Subtil baut Petras einen menschlichen Rahmen des Versagens um seinen Protagonisten. Gespielt werden die talentierten Töchter – mit Ausnahme der Schauspielerin Hanna Plaß – von Stuttgarter Laiendarstellern, die das Staatstheater zuvor in einem offenen Casting auswählte. Was genau die Bewerberinnen dafür mitbringen mussten, blieb offen: Hauptsache künstlerisches Talent. Und das haben die Darstellerinnen allemal. Auch wenn die künstlerischen Einlagen qualitativ unterschiedlich sind, bleiben sie allesamt überdurchschnittlich. Nur Ivan sieht das anders, er hat genug vom lebenslangen Lebensersatzgefängnis der Kunst. Doch so sehr er auch lamentiert, verabschieden muss er sich trotzdem. Von einem Leben, das er nicht gelebt hat. Und obwohl er sich dazu nicht wie Fräulein Else auf einem Sofa ausstreckt und jammert, ist dieses Ende letztlich nicht weniger tragisch.