Am Mittwoch zeigen das Schauspiel Stuttgart und das Ballett als Koproduktion das Stück „Dancer in the Dark“. Darin geht es um Selma, die erblinden wird, aber ihrem Sohn Gene dieses Schicksal ersparen will.

Stuttgart - Sie wollte nicht mehr. Kaum hatte die isländische Sängerin Björk mit dem dänischen Regisseur Lars von Trier „Dancer in the Dark“ – ein mehrfach ausgezeichneter Mix aus Dogmafilm und Musical – abgedreht, verkündete sie, nie mehr einen Film drehen zu wollen. Björk hatte die Musik geschrieben und die tschechische Einwanderin Selma derart intensiv gespielt, dass es nicht nur dem Zuschauer unter die Haut ging. Am Mittwoch wird „Dancer in the Dark“ in einer Kooperation des Stuttgarter Balletts und des Schauspiel Stuttgarts in der Spielstätte Nord uraufgeführt. Regie führt Christian Brey, Marco Goecke und Louis Stiens besorgen die Choreografie – basierend auf der Textfassung des US-amerikanischen Schriftstellers Patrick Ellsworth.

 

Dieser weilt derzeit in Stuttgart. Und er erinnert sich, wie für ihn alles begann. „Ich war sprachlos, als ich den Film im Herbst 2000 erstmals gesehen hatte, ich wollte diese Story auf die Bühne bringen.“ Im Jahr 2003 konnte er dann die Rechte erwerben, nachdem anderer Autoren bei Lars von Triers Stoff kapitulierten. Dieser handelt von Selma, die erblinden wird, aber ihrem Sohn Gene dieses Schicksal ersparen will. Die Alleinerziehende schuftet Tag und Nacht in der Fabrik, jeder Cent ist ein Schritt näher zur Operation, die Genes Augenlicht retten soll. Vor den Alltagssorgen flüchtet sie in die Welt des Musicals, wo „nie etwas Schreckliches geschieht“. Als ihr Vermieter, der Polizist Bill, von ihrem mühsam Ersparten etwas leihen will, auch um den Lebensstil seiner Frau zu finanzieren, kommt es zur Katastrophe: Selma wird wegen Mordes angeklagt.

„Selma ist der Dreh- und Angelpunkt“, so Ellsworth. „Es ist die immer gültige Geschichte eines Elternteils, das zu jedem Opfer – auch dem eigenen Tod – bereit ist, um sein Kind zu retten.“ Die Bilder des Films habe er sprachlich umgesetzt: Selma teile ihre Gedanken und Beweggründe so dem Publikum mit, dass jeder Einzelne das Gefühl habe, sie spreche direkt zu ihm. Auch das enge Band zwischen Mutter und Sohn wollte er betonen. „Im Film spricht Gene nicht, im Stück lasse ich ihn sprechen.“ Schließlich habe er die Atmosphäre, wie sie in Arbeitervierteln der sechziger Jahre an der Ostküste herrschte, und deren Umgangssprache verwendet.

„Lars wagt es, große Dinge zu erzählen“

Auch in Stuttgart spiele dies eine Rolle. Aber da Schauspiel und Ballett zusammenkamen, habe man in Mails und Gesprächen „viel Fleisch“ von der Bühnenfassung weggenommen und auf das „wesentliche Skelett“ reduziert. „So eröffneten sich fantastische Möglichkeiten der Bewegung, Gesten, Sprache und Pausen einer einzigartigen Stuttgart-Version“, schwärmt Ellsworth.

Dass es diese Fassung gibt, ist ein Verdienst des Regisseurs Christian Brey, der bereits mit seinen Komödieninszenierungen am Schauspiel Stuttgart Erfolge feierte, etwa mit dem „Boss vom Ganzen“ aus der Feder Lars von Triers. Dessen Tänzer im Dunkeln sei ihm schon länger im Kopf herumgespukt. Brey sagt: „Wenn man Ernstes macht, muss es ein ordentlicher Stoff sein – Lars wagt es, große Dinge zu erzählen.“ Und da er die Arbeiten Marco Goeckes, dem Hauschoreografen beim Stuttgarter Ballett, sehr schätze, kam ihm die Idee einer Koproduktion zwischen beiden Sparten der Stuttgarter Staatstheater – die erste nach zwölf Jahren.

„Das sind zwei unabhängige Bereiche, wegen der unterschiedlichen Spielpläne ist es nicht so einfach umzusetzen“, sagt Brey. Der Tänzer und Nachwuchschoreograf Louis Stiens ergänzt: „Das Ballett ist auch oft auf Reisen.“ Beide beschreiben, wie befruchtend die gemeinsame Arbeit sei. „Jeder ist beeindruckt von der Leistung der anderen, wir haben großen Respekt voreinander“, sagt Brey schmunzelnd.

„Musicals helfen aus der Realität zu flüchten“

Stiens war zunächst als Tänzer im Stück vorgesehen. Nachdem aber Goecke krankheitsbedingt ausfiel, bat er den jungen Kollegen seinen Part zu übernehmen. Nun ist Goecke wieder mit im Boot. „Marco hat den Rahmen gelegt, ich habe darauf aufgebaut“, so Stiens. Er habe etwa Swingelemente eingebracht. So wird nicht Björks Filmmusik zu hören sein, sondern die Kompositionen von Matthias Klein, der darin Musical-Melodien der dreißiger und vierziger Jahre à la Judy Garland oder Fred Astaire verwebt.

„Musicals, eine uramerikanische Form der Unterhaltungshows, helfen aus der Realität zu flüchten, die Klänge kommen – und schon sind sie wieder weg, das verstört“, so Brey. Stiens ergänzt: „Wie wohlige Erinnerungen an die ‚Glorious Days’! Hier nimmt sich Lars von Trier ein Genre vor, um es wieder zu zerstören.“

Der Tanz erzähle von der unbewussten Ebene. Solos spiegelten etwa die Selmas kreisende Gedanken. Die Schauspielerin Ute Hannig gibt die Titelfigur, die sich gemäß Ellsworth immer wieder aus den Szenen löst und an die Zuschauer wendet. Ihr Sohn Gene indes drückt sich durch Bewegung aus. „Alessandro Giaquinto von der John Cranko Schule spielt ihn, ein großes Talent, Marco hat ihn entdeckt“, so Stiens.

Mit Brey und Ellsworth ist er sich einig, dass „Dancer in the Dark“ höchst aktuell ist, gerade auch nach den US-Wahlen, wo zwei Systeme zur Abstimmung gestanden seien – staatliche Verantwortung gegen Wirtschaftsliberalität. „Es geht nicht nur um Selma, die durchzieht, was sie für richtig hält, um Schuld oder Moral“, so Brey. „Es geht auch um den American Dream des ‚Jeder kann es schaffen’. Bill und Linda sind typische Vertreter. Aber er scheitert – sie sind hoch verschuldet, wie so viele heute.“

Termine Die Premiere (Mittwoch, 19.30 Uhr, Nord) sowie alle weiteren Vorstellungen sind ausverkauft. Eventuell gibt es zu den jeweiligen Terminen noch Restkarten an der Abendkasse.