Auf der kleinen Bühne im Nord zeigt Catja Baumann „Salmans Kopf“ der Brüder Presnjakow. Die bitterböse Gesellschaftssatire dreht sich um den wahren Wert von Kunst und Kultur.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - schmutzig, derb, grell, absolut versaut, ohne Umwege, ohne Tabu – nein, keine Sorge, wir wollen nicht die neuesten Erzeugnisse osteuropäischer Sexfilmproduktion anpreisen. Aber irgendwie treffen all diese durchaus ambivalenten Eigenschaften auch auf die Stücke der beiden russischen Dramatikerbrüder Presnjakow zu. Probleme der Moral spielen darin zwar durchaus eine Rolle, werden aber nicht mehr moralisch verhandelt. Menschen haben Bedürfnisse, Menschen haben Interessen und wollen sie befriedigen, Menschen biegen sich die Lage zurecht, bis es halt passt.

 

In „Salmans Kopf“ beispielsweise, dem neuen Presnjakow-Stück, uraufgeführt auf der kleinen Bühne im Nord, hat eine Dichterfamilie das erkennbare Bedürfnis nach einem gewissen Wohlstand. Der eine Sohn will zur Schauspielschule, der andere ins Musikgeschäft, beide brauchen Startkapital, und der Gattin gelüstet es nach Designhandtaschen. Dumm nur, dass dem Dichter seit Längerem nichts Gescheites mehr einfällt. Da rollt kein Rubel mehr. Super dagegen, dass er vor vielen Jahren mal schlimme Dinge über den Islam geschrieben hat und die Mullahs deshalb auf seinen Kopf eine Million Dollar ausgesetzt haben. Also beschließt die Familie, sozusagen über Papas Kopf hinweg, Plan B: Das Geld muss rein, der ansonsten unproduktive Dichter also unters Beil.

Bitterböse Gesellschaftssatire

Die Assoziationen zu Salman Rushdie sind natürlich gewollt – und werden in Stuttgart noch dadurch genährt, dass Sebastian Kowski in der Titelrolle entsprechend zurechtgemacht worden ist und tatsächlich so aussieht wie der indisch-britische Schriftsteller. Rushdies Schicksal – er wird bis zum heutigen Tag von einem Todesurteil der iranischen Führung bedroht – wird aber weder politisch noch moralisch diskutiert. Es ist in „Salmans Kopf“ nur der Vorwand, um eine kleine bitterböse Gesellschaftssatire über den wahren Wert von Kunst und Kultur im Hier und Jetzt zu erzählen – wie gesagt: schnell, schmutzig, derb, grell. Und ob das nun wiederum auf einer Theaterbühne moralisch erlaubt ist, muss wohl jeder Zuschauer für sich entscheiden.

Zum Glück machen im Nord ein quirliges Ensemble und eine forsche Inszenierung es dem besagtem Zuschauer leicht, aufkeimende Bedenken schnell wieder zu verdrängen. Die Regisseurin Catja Baumann vertraut ganz der Absurdität der Konstellation und dem Wortwitz des Textes – nur an zwei, drei Stellen lässt sie das Tempo des Stücks schleifen und fügt Redundanzen hinzu, die den Betrieb unnötig aufhalten. Anna Windmüller als Gattin, Fridolin Sandmeyer und Matthias Kelle als Söhne sowie Jan Jaroszek als „Boyfriend“ treffen exakt den richtigen Ton an quirliger Überdrehtheit, der Spaß macht, ohne auf die Nerven zu gehen. Bijan Zamani ist ein herrlich grusliger Metzger, der zum rechten Zeitpunkt eine selbst gebastelte Guillotine mit in den Wettbewerb bringt. Und Sebastian Röhrle und Eléna Weiß spielen ebenso grotesk wie grausam das nun endgültig morallose Milliardärspaar mit den Geldscheinen im Sack.

Genau bedachter Körpereinsatz

Ein paar Sätze seien aber noch Sebastian Kowski gewidmet. Er ist nun schon seit elf Jahren Mitglied des Stuttgarter Ensembles und hat in jeder Saison wichtige Rollen in wichtigen Inszenierungen gespielt – und doch haben wir uns, das müssen wir jetzt mal zu Protokoll geben, kein bisschen an ihm satt gesehen. Wie es dieser in vielerlei Hinsicht eindrucksvolle Schauspieler schafft, seit Jahr und Tag durch große Sprechkultur, genau bedachten Körpereinsatz und klaren analytischen Verstand seinen Bühnenfiguren Präsenz und Schlüssigkeit zu verleihen – das macht ihm auch an diesem Abend so schnell keiner nach. Sicher, das hier ist nur eine kleine, kurze Farce, eine überschaubare Produktion auf der Studiobühne. Und doch geht es im Nord eine gute Stunde lang dank Sebastian Kowski ums Große und Ganze – eben um seinen, um „Salmans Kopf“. Ohne Tabu.