Schauspiel Stuttgart Jubel für „Don Carlos“ von Schiller im Schauspielhaus
Wie Regisseur David Bösch im Schauspielhaus Stuttgart Schillers Tragödie „Don Carlos“ als Psychogramm eines jungen Mannes inszeniert und die Jugend von heute porträtiert.
Wie Regisseur David Bösch im Schauspielhaus Stuttgart Schillers Tragödie „Don Carlos“ als Psychogramm eines jungen Mannes inszeniert und die Jugend von heute porträtiert.
Wie war Don Carlos nicht schon zu erleben – als tiefgründelnder Melancholiker, als Null-Bock-Schluri, als wütender Rebell. Der Sohn von König Philipp ist eine der Bühnenfiguren, in die sich ähnlich viel hinein interpretieren lässt wie in Siegfried oder Hamlet. Und jetzt? Jetzt taucht Carlos aus der Tiefe des sehr dunklen Raums auf, zögernden Schrittes betritt er am Premierensamstag die Bühne des Schauspielhauses Stuttgart.
Nervös flackernder Blick, bleich, weiche Bewegungen, durchsichtiges schwarzes Hemd, rabenschwarze Federkrause um den Hals, Edeljogginghose, ein bisschen Kajal um die Augen. Zeitgemäße Dekadenz umflort den Königssohn, der gleich mal feststellt, was er ist: ein Opfer der Umstände. „Ich habe sehr viel Unglück mit meinen Müttern.“ Felix Strobel sagt das mit Schmerz, auch mit Sarkasmus im Ton. Und vor allem mit einer Vorwurfshaltung an die Welt. Die Mutter stirbt bei seiner Geburt, die neue Mutter kostet ihn „meines Vaters Liebe“. Zu allem Übel liebt er sie. Und sie ihn? Das deutet er an, als er mit stolzem Lächeln berichtet, dass Elisabeth erbleicht, als sie meint, ihm sei etwas zugestoßen, und müde abwinkt, als ihr klar wird, dass es der König ist, der verwundet ist.
Schiller-Kenner wissen es, diese Anekdote kommt bei Friedrich Schiller nicht aus Carlos’ Mund, sondern von Beichtvater Domingo. Der erzählt sie Carlos, um so etwas über dessen Gefühlslage herauszufinden. Mit solchen kleinen Umstellungen – sowohl zu Beginn wie zum tragischen, zu Tränen rührenden Finale – gelingt es dem Regisseur David Bösch und seiner Dramaturgin Gwendolyn Melchinger, die Figuren noch klarer zu zeichnen, die Spannung zu steigern.
Und Felix Strobel macht jeden Auftritt zum Ereignis. Er lässt mit wunderbar bis in die Nuancen genauem Sprechen, bis ins kleinste Ah und Oh, Schillers Text wirken, als sei er gerade erst jetzt und nicht schon 1787 geschrieben worden. Kleine Gesten, wenn Carlos mit ungeduldigem Abwinken den Beichtvater fortschickt, verraten, dass das Bürschchen sehr genau weiß, wer er ist und was er sein will – der nächste König, der Freiheit versprechende Herrscher über ein Riesenreich.
Dass er auch nicht immer gedanklich auf der Höhe ist, zeigt Carlos aber auch. Etwa in der mit Mut zum Slapstick gespielten Szene mit Katharina Hauter als Prinzessin Eboli. Eine der peinlichsten Liebesszenen der Bühnenliteratur – die Frau wähnt sich geliebt und erkennt, der Mann liebt, aber halt nicht sie. Wenn sie ihn an ihre Brust drückt, er verwirrt in Richtung Publikum blickt, sie ihn aufs Samtsofa zieht und beide beinah herunterpurzeln, und wenn sie im Liebesmissverständnis ständig aneinander vorbeireden, dann ist das alles mindestens so peinlich wie komisch und bemitleidenswert anrührend.
Es geht der Regie um die psychologischen Wirrungen. Bedrückende tagespolitische Aktualitätsbezüge stellen sich von alleine ein, wenn von Unterdrückung, Überwachung und überfallenen Ländern die Rede ist. Carlos, Posa, Elisabeth sind Vertreter der heutigen Jugend, die Ansprüche stellt, für eine bessere Zukunft kämpft, sich von den Alten getäuscht sieht und zwischen Rebellion und Verzagtheit schwankt. Ihre Selbstliebe ist groß, auch darum geht viel gehörig schief. Don Carlos ist verliebt, mindestens so sehr in die Liebe selbst wie in Elisabeth. Diese von Frida-Lovisa Hamann so selbstbewusst sympathisch und pragmatisch gespielte Frau erkennt auch, dass Posa sich in der Rolle des Märtyrers fast so gut gefällt wie in der des Retters unterdrückter Völker.
Alle Figuren haben Probleme mit dem rechten Maß, mit Einsamkeit, mit Distanz und Nähe. Sie kommen einander nicht wirklich nahe, fühlen sich nicht gut in ihrer Hülle, in die das höfische Korsett sie schnürt. Lediglich David Müllers Marquis von Posa (Turnschuhe, Hose, Cardigan) wirkt so elastisch, wie er denkt. Kostümbildnerin Pascale Martin steckt den König in einen Brokatstoffanzug, der ihn zu steifen Bewegungen zwingt. Sie kleidet die Königin in ein blutrotes Krinolinenkleid mit langem Saum, an dem sie energisch nestelt, um nicht zu stolpern, wenn sie mit Philipp streitet. Leicht schwingt ihr Rock nur, wenn sie sich mit Carlos zu schön pathetischer Musik im Kreis dreht, sich von ihm tragen lässt, ihn küsst. Hoch ist der Bühnenhimmel dann und weit, wenn das Liebespaar zusammenkommt, wenn Posa seinen Freund Carlos daran erinnert, dass er trotz Liebesschmerz den Befreiungskampf nicht vergessen möge.
Neonlichtröhren schweben herab, verströmen kaltes Licht. Sie machen den Raum (Falko Herold, David Bösch) zur Kommandozentrale, in der die Generation der alten weißen Männer beisammen steht und Whisky aus Kristallgläsern trinkt – geradeso wie J. R., der in der Liebes- und Macht-Fernsehsoap „Dallas“ fies feixend die nächste Intrige plante. König Philipp (Matthias Leja), Beichtvater Domingo (Reinhard Mahlberg), Herzog von Alba (Michael Stiller) sind in ihren tradierten Rollen der konservativen Hüter von Unrecht und Ordnung gefangen.
Der König aber ist auch nur ein Getriebener, wird vor dem Großinquisitor (die Stimme aus dem Off gehört Anke Schubert) ganz klein. Er trippelt brav auf der Linie des Kreuzes, das auf die Bühne projiziert wird, lässt sich anherrschen, den Sohn aufzugeben – lieber „Verwesung“ als „Freiheit“.
Es ist die Stärke von David Böschs sich auf psychologische Untiefen konzentrierende Inszenierung, dass es viel dunkles Grau gibt, kein Schwarz und Weiß, kein bloßes Gut und Böse. Und dass Schillers Freundschafts- und Liebespathos auf ganz unprätentiöse, anrührende Weise gefeiert wird. Fast noch nie seit der Intendanz von Burkhard Kosminski war der Jubel stürmisch wie nach diesem zweieinhalb Stunden währenden beglückenden Schauspielerfest.
Weitere Vorstellungen
Die nächsten Vorstellungen von Schillers dramatischem Gedicht finden am 17. Januar, 1., 5., 15., 23. Februar, 5. und 11. März statt. Die nächste neue Produktion, in der Felix Strobel zu sehen sein wird, ist Shakespeares „Sturm“ am 22. April.
Die nächsten Premieren
Die Jugend bekommt nicht nur bei Schiller einen großen Auftritt, sondern auch in den nächsten Premieren: Arrabals „Picknick im Felde“ am 20. Januar im Nord ist eine Kooperation mit Studierenden der Akademie für Darstellende Kunst Ludwigsburg. „Die Krise des jungen Törless“ nach Musils Novelle am 23. Februar im Nord ist eine Zusammenarbeit mit Studierenden der Staatlichen Hochschule für Darstellende Kunst und Musik Stuttgart.