Schauspiel Stuttgart So war die Premiere von „Schuld und Sühne“

Die Welt hängt voller Äxte: David Müller in der Rolle des Axtmörders Rodion Raskolnikow in Dostojewskis „Schuld und Sühne“ im Schauspielhaus Stuttgart. Foto: Schauspiel Stuttgart/Katrin Ribbe

Wie Regisseur Oliver Frljić im Schauspielhaus Stuttgart Dostojewskis berühmten Roman „Schuld und Sühne“ in eine Albtraumlandschaft verwandelt.

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Raskolnikow ist eine der berühmtesten, weil gefährlichsten Figuren der Weltliteratur. Gefährlich, weil er mit dem Gedanken spielt, dass manche Menschen über dem Recht stehen. Dass Genies töten dürfen, sofern sie etwas Größeres zum Wohle der Menschheit im Schilde führen. Kurz, wenn sie „ein neues Wort“ zu sagen haben. Fjodor M. Dostojewski erzählt davon in dem 1866 erschienenen Roman „Schuld und Sühne“. Der russische Autor lässt den Jurastudenten Raskolnikow eine alte Wucherin mit der Axt töten und hernach Hunderte Seiten lang darüber debattieren, leiden.

 

Raskolnikow ist in Stuttgart wunderlich

Regisseur Oliver Frljić hat in seiner Inszenierung fürs Schauspiel Stuttgart am Samstag eine klare Meinung zu solchen Gedankenexperimenten: so ein Unsinn! Und: interessiert mich nicht! Schon nach der ersten Szene ist das Thema erledigt. Raskolnikow, gespielt von David Müller, hat zerlumpte Leute im Schlepptau. Die meisten stellen sich gebeugten Hauptes nach links, zwei andere stehen rechts. Die Leute links sind die normalen Menschen, die sich an Recht und Ordnung halten sollten. Die zwei rechts könnten zu den Auserwählten zählen. Sie aber reihen sich gleich freiwillig bei den Normalen ein. Raskolnikow, der wunderliche Mensch, wird isoliert. Ein Spinner, kein Gedankenverführer.

So nachvollziehbar diese Haltung angesichts der älteren und aktuellen Weltgeschichte ist, die Inszenierung verliert dadurch jegliche Entwicklungsfähigkeit – den gedanklichen Reiz, mitzuverfolgen, wie Raskolnikow selbst darauf kommt, dass derlei Spekulation in die fatale Irre führt.

Das soziale Elend der Welt

David Müller bleibt an dem dreistündigen Premierenabend also nicht viel mehr zu tun, als gebückt dazustehen, erschreckt, bleich, schwach. Er hat keine Macht über Menschen, nicht mal über sich selbst. Leiden ersetzt das Denken, und so brüllt er voller Verzweiflung die geliebte Sofia an, dass deren Schwester sicher ein ähnliches Los zuteil werde wie ihr selbst, sich nämlich verkaufen zu müssen.

Denn das interessiert den Regisseur. Das soziale Elend. Und an solchen Geschichten ist der Roman auch reich. Frljić erzählt sie in wunderbaren, mit Klassik und dumpfen Beats beschallten Szenen. Die leere Spielfläche wird von Bühnenbildner Igor Pauška mit blutroten Requisiten bestückt. Betten, Schränke, Verhandlungstische, so lang wie jene, an denen Russlands Präsident Vladimir Putin über den Ukraine-Krieg verhandelte; so viel zur dezenten Aktualisierung.

Die Regie entfernt den theoretischen Kern des Romans. Das bisschen Romantik ebenso, denn Sofia und Raskolnikow kommen nicht zusammen. Auch der Trost durch Religion fällt aus. Oft zieht Sofia eine riesengroße Jesusfigur auf die Bühne. Sie haut ihr irgendwann beherzt den Kopf ab, steckt ihn sich unter das Kleid. Anspielung auf eine Marienfigur? Oder Glaubensexorzismus?

Zumindest ist Zweifel an der Güte Gottes ins Spiel gebracht, denn die Statue taucht in den bedrückendsten Szenen auf. Männer marschieren aus dem albtraumhaften Dunkel ins gleißende Licht. Sie sind Vergewaltiger, Kinderschänder, Frauenquäler. Luschin (Peer Oscar Musinowski) spannt seine künftige Gattin (Celina Rongen) wie ein Vieh vor eine Kutsche und lässt sie im Kreis laufen. Marmeladow stiehlt seiner schwindsüchtigen Frau (Therese Dörr) und der kleinen Tochter Polenka (Elsa Kuhn) noch die letzten Kopeken, schickt die ältere Tochter Sofia (Paula Skorupa) auf den Strich.

Reinhard Mahlbergs Marmeladow sieht mit seinem Bart aus wie ein Wiedergänger Dostojewskis (der aus Spielsucht ebenfalls die Habseligkeiten seiner Frau versetzte). In seinem hinreißenden weinerlichen Monolog beschuldigt er sich selbst als den schlechtesten aller Menschen, der seine Familie vergöttert und doch so mies behandelt.

Absurder Humor im Schauspielhaus

Keine Hoffnung, nirgends. Wenn überhaupt, dann könnte absurder Humor das Menschheitselend lindern. Und so gibt es für Slapstickszenen mit Raskolnikow, seinem Freund Rasumichin und dem Ermittler Porfirij Petrowitsch Szenenapplaus. Zu Recht. Valentin Richters Rasumichin hantiert herrlich nervös mit meterhohen Papierstapeln, Felix Strobels energiegeladener, aufgekratzter Ermittler Petrowitsch verwickelt den Jurastudenten Raskolnikow in irre Gedankenspielerei. Alle drei turnen dabei behände an einer roten Klappleiter herauf und herunter. Schließlich tragen sie den zwischen die Leiterteile geklemmten Raskolnikow von der Bühne. Dass auch die staatlichen Organe zum Witz werden, ist nur konsequent.

Ebenso, dass dem matten Helden irgendwann der Himmel voller Äxte hängt. Zwischen denen bewegen sich die Figuren, nehmen Raskolnikows philosophischen Größenwahnessay Satz für Satz auseinander. Sie verabschieden das Publikum mit der Frage, ob die Parole „Niederreißen, was niedergerissen werden muss?“ einen Gedanken wert sei. Dieser erscheint in Zeiten wie diesen – im Guten wie Schlechten – aktueller denn je.

Info

Dostojewski
Fjodor M. Dostojewskis Geburtstag jährte sich im Jahr 2021 zum 200. Mal. Viele Theater bringen daher in dieser Saison Werke des russischen Autors, der von 1821 bis 1881 lebte, auf die Bühne. Oliver Frljics „Schuld und Sühne“-Inszenierung war lange vor dem Ukraine-Russland-Krieg geplant. Eine Anspielung darauf zeigt sich aber in einem Spielzeugpanzer, den der Kommissar dem Mörder Raskolnikow unter die Nase hält. „Schuld und Sühne“, erschienen 1866, ist seit der Neuübersetzung von Svetlana Geier auch unter dem Titel „Verbrechen und Strafe“ bekannt.

Weitere Vorstellungen
Termine im Schauspielhaus: 23., 24. und 29. Juni, 3. und 12. Juli. www.schauspiel-stuttgart.de

Die letzten Premieren der Saison 2021/2022
„Pigs“, ein interaktives Rollenspiel von Miriam Tscholl, im Kammertheater am 23. Juni. „Hitze“ nach dem Roman „La Chaleur“ von Victor Jestin im Nord am 19. Juli.

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