„Sobald fünf Jahre vergehen“ heißt das selten gespielte Stück des Spaniers Federico Garcia Lorca. Er selbst hielt das Stück für unaufführbar. Am Staatsschauspiel Stuttgart wird jetzt daraus ein großer surrealer Bilderbogen.

Stuttgart - Federico García Lorca selbst hielt „Sobald fünf Jahre vergehen“ für unaufführbar. Und in der Tat: auf den Spielplänen der deutschen Theater findet man seine „Legende von der Zeit“ von 1931 äußerst selten – anders als die späteren Stücke des mit 38 Jahren ermordeten Dichters, „Bernarda Albas Haus“, „Yerma“ und „Bluthochzeit“, die einige der renommiertesten Regisseure zu Inszenierungen gereizt haben. Die Nähe zum Surrealismus, eine Vorliebe für lyrische Elemente und Masken sowie die Selbstreflexion des Theaters rücken den Spanier in die Nachbarschaft des Italieners Luigi Pirandello und des Belgiers Michel de Ghelderode, mit dem er das Geburtsjahr teilt. In den Mainstream sind sie alle bis heute nicht eingegangen. Was im Gedicht, jedenfalls in Deutschland, als Tugend gilt, die hermetische Dunkelheit, wurde im Drama des 20. Jahrhunderts durch die von Ibsen abgeleitete Tradition an den Rand gedrängt.

 

Der Regisseur Jo Fabian bemüht sich gar nicht erst um eine Deutung von Lorcas rätselhaftem Text. Er nimmt ihn vielmehr als Vorwand für einen surrealistischen Bilderbogen. Um die Orientierung zu erleichtern, erzählt der Vater der Braut (Michael Stiller) vorweg den Inhalt des gekürzten Stücks, das dann mehr und mehr aus dem Blick gerät. Ein junger Mann (Florian Rummel) will seine Braut (Marianne Helene Jordan) erst nach fünf Jahren heiraten. Doch die richtige Liebe – oder ist es die falsche? – führt nicht, wie in der Screwballcomedy, in die Ehe, sondern in den Tod. Stiller sagt auch: „Bei Lorca wird bekanntlich sehr viel gewartet, was es der Regie nicht gerade leicht macht.“ Ein offenes Wort. Wer Theater nur als Veranstaltung der Sinnstiftung gelten lässt, wird von diesem Abend enttäuscht sein. Wer die Erfindung sinnlicher szenischer Vorgänge für eine nicht weniger akzeptable Möglichkeit des Theaters hält als die Übermittlung einer Botschaft, sollte ihn nicht versäumen.

Wo so verschiedenartige Figuren aufeinandertreffen wie ein namenloser alter Mann (Elmar Roloff), eine tote Katze, ein Rugbyspieler und ein Harlekin, darf man keine konventionelle Fabel erwarten. Dabei hat Fabian die fantastischeren Gestalten aus dem Stück eliminiert. Eine Katze mit zwei roten Blutflecken in Begleitung eines toten Kindes mit einer gedrehten Kerze in der Hand hat bei ihm keinen Platz.

Zwischendurch wird auch mal Polnisch gesprochen

Jo Fabian zeichnet auch für Ausstattung und Musik verantwortlich, und es sind nicht zuletzt die Kostüme, die bildkräftigen Arrangements, die den Abend zum Erlebnis machen. Fabian holt sich Anregungen bei der Clowntradition bis hin zu Becketts „Godot“ und den Blues Brothers. Ein Clown ist tatsächlich bei Lorca, wenn auch nicht in Fabians Strichfassung, vorgesehen. Die Figuren haben schwarze Lippen und tragen Abendkleider oder Fräcke, Melonen und weiße Gamaschen. Der Avantgardefilm eines René Clair oder eines Luis Buñuel sowie Videoclips haben Spuren hinterlassen. Die drei Teile der flachen Kulisse sind mit dicken Seilen verknüpft. Über der Bühne hängen Magritte’sche Felsbrocken als Wolken.

Meist befinden sich alle Mitwirkenden zugleich auf der Bühne, um immer neue Ensemble-Tableaus zu bilden. Da hält einer unvermittelt einen Vortrag über die Zahl fünf, ein anderer zieht vor dem Mikrofon einen veritablen Rap ab, die Stenotypistin (Nathalie Thiede) spricht das Publikum auch in polnischer Sprache an. Gleichsam als Interpunktion zwischen den einzelnen Szenen dienen groteske Choreografien, die allerdings darunter leiden, dass sie seit einiger Zeit inflationär daran erinnern, welch ein Ausnahmetalent Pina Bausch war. Gegen Schluss geht der in Zeitlupe verlangsamten Inszenierung leider die Luft aus. Bis Ende der neunziger Jahre hatte Enrique Beck ein rechtlich geschütztes Monopol auf den deutschen Lorca. Das Schauspiel Stuttgart verwendet die neuere Übersetzung von Thomas Brovot. Die ist in dieser Bearbeitung freilich nur noch sehr fragmentarisch erkennbar.

Das Theaterwochenende mit seiner Reminiszenz an Fluxus, die Avantgarde der frühen sechziger Jahre, und an ein drei Jahrzehnte älteres Drama der außergewöhnlichen Art gibt Anlass zur Reflexion über die Haltbarkeit von Experimenten. Wann zitieren sie nur noch sich selbst, wann ermöglichen sie eine Wiederentdeckung von vergessenen Alternativen zu all dem, was allein durch seine Präsenz als das „Normale“ gilt?