Acht Jahre lang stand der Gynäkologe Ulrich Clever an der Spitze der Landesärztekammer. Die Politik stelle die Mediziner häufig vor kaum lösbare Aufgaben, kritisiert er im Interview.

Stuttgart - Als Wegbereiter der Digitalisierung in der Medizin hat er von sich reden gemacht – und das auch bundesweit. Im Interview spricht der scheidende Ärztepräsident über neue Anforderungen an seinen Berufsstand und kritisiert immer neue politische Vorgaben.

 

Herr Clever, Berufsbilder ändern sich, der Arztberuf macht da keine Ausnahme. Sie stehen nach zwei Amtsperioden an der Spitze der Landesärztekammer vor dem Abschied. Wie sehr hat sich das Berufsbild des Mediziners in diesen acht Jahren verändert?

Der Abschied vom sprichwörtlichen Halbgott in Weiß mag vollzogen sein, dennoch werden an Ärztinnen und Ärzte Anforderungen gestellt, die ohne annähernd göttliche Fähigkeiten kaum zu bewältigen sind. Jedes Gesundheitsreformgesetz bringt neue Vorgaben, denen der einzelne Arzt nicht immer so nachkommen kann, wie er das vielleicht gerne möchte.

Haben Sie ein Beispiel?

Nehmen Sie das Patientenrechtegesetz. Was darin steht, ist alles richtig. Natürlich müssen wir Patienten umfassend aufklären und sicherstellen, dass sie verstehen, worum es bei einer Behandlung geht. Aber zum Nulltarif, wie es in der Gesetzesbegründung beim Punkt Erfüllungsaufwand hieß, ist das für uns Ärzte eben nicht zu haben. Wir müssen Kopien der Zustimmungserklärungen bereitstellen und zu den Akten nehmen. Wir müssen den Dolmetscher organisieren und bezahlen, wenn die Aufklärung an mangelnden Sprachkenntnissen des Patienten scheitert. So ist es mit jedem Gesetz. Es kommt immer noch etwas obendrauf.

Gilt das nicht für viele Berufe?

Das will ich gar nicht bestreiten. Allerdings kann ich nur für die Ärzteschaft sprechen. Wenn heute deutlich weniger junge Mediziner eine eigene Praxis anstreben und stattdessen eine Anstellung suchen, hat das auch mit immer neuen bürokratischen Vorgaben zu tun. Die Verwaltung des ärztlichen Tuns, gerade auch durch zahllose Gesetze zur Kostendämpfung, stellt uns häufig vor kaum lösbare Aufgaben. Das ist sicher eine Facette des Themas Ärztemangel.

Ist der Beruf heute weniger attraktiv als noch vor 20 Jahren?

Das würde ich nicht sagen. Die Bewerberzahlen für das Medizinstudium zeigen, dass der Beruf weiter sehr anziehend wirkt auf junge Leute, die mit Menschen arbeiten und helfen wollen. Aber das gilt zugleich für andere Gesundheitsberufe. Auch wenn unsere Ausbildung am längsten dauert und uns am spätesten in den Beruf entlässt – wir Mediziner müssen lernen, dass andere ebenfalls hoch motiviert sind und tolle Arbeit leisten. Und dass wir nur dann gute Patientenarbeit machen können, wenn wir auf Augenhöhe zusammenarbeiten.

Arzt zu sein galt früher als Berufung, jetzt wird es mehr und mehr ein Beruf. Junge Mediziner fordern ein, dass es ein Leben neben diesem Beruf geben muss. Macht dieser Perspektivwechsel Sie wehmütig?

Nein. Wehmut spüre ich, wenn ich mit altgedienten Kollegen spreche, die ihre Kinder vor lauter Arbeit in Klinik oder Praxis nur nachts oder in den Ferien zu Gesicht bekommen haben. Die haben durchaus Verständnis dafür, dass der Nachwuchs acht Stunden lang 100 Prozent geben, danach aber Feierabend haben will.

Sie haben mit Blick auf die Digitalisierung der Medizin wichtige berufspolitische Weichenstellungen durchgesetzt. Was war Ihr Antrieb?

Fortschritt muss nicht immer in die richtige Richtung führen, aber wir Ärzte dürfen uns ihm nicht grundsätzlich verschließen. Es ist gut, dass unsere baden-württembergische Initiative zur ausschließlichen Fernbehandlung die Ärzteschaft ein Stück weit vom falschen Verdacht befreit hat, wir seien gegen alles, was mit Digitalisierung zu tun hat. Man denke nur an die elektronische Gesundheitskarte, für deren Anlaufprobleme nun wirklich nicht nur die Ärzte verantwortlich sind, sondern zu mindestens gleichen Anteilen auch die Krankenkassen und andere. Ich bin davon überzeugt, dass die Fernbehandlung in 20 Jahren zum alltäglichen Geschäft für Ärzte gehören wird.

Sie selbst waren viele Jahre als Gynäkologe in Freiburg niedergelassen. Wie sehen Sie die Zukunft der Arztpraxis – ist sie ein Auslaufmodell, werden Medizinische Versorgungszentren mit angestellten Ärzten sie ersetzen? Bei den Zahnärzten sind diese sogenannten MVZ auf dem Vormarsch.

Für mich ist klar, dass die Zukunft eine stärkere Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Arztgruppen beispielsweise in Berufsausübungsgemeinschaften bringen wird, die dann wiederum mit anderen Gesundheitsberufen kooperieren. Das alles kann in einem MVZ gelingen. Die Frage ist nur, ob diese Einrichtungen noch von Ärzten gegründet und betrieben werden oder von Anlegern, die in erster Linie ihr Kapital mehren wollen. In der zahnärztlichen Versorgung ist der Streit darüber bereits voll entbrannt. Ich bin gespannt, ob die Zahnärzte es noch schaffen, die Politik davon zu überzeugen, dass man die medizinische Versorgung eben nicht dem Kapitalmarkt überlassen sollte. Wohin das führt, das zeigen viele Kliniken, in denen heute statt Ärzten Betriebswirte und Juristen das Sagen haben.