Mehr als 23 Jahre hat Sieghard Kelle die Jugendhausgesellschaft Stuttgart geleitet. Egal ob Jugendhausbesucher oder Oberbürgermeister – der gelernte Erzieher traf stets den richtigen Ton. Im Interview erklärt er, warum Jungsein heute kein Zuckerschlecken ist.

Lokales: Tom Hörner (hör)

Stuttgart - Sieghard Kelle hat die Jugendhausgesellschaft Stuttgart zu einer städtischen GmbH gemacht. Für den Ruhestand hat er schon zahlreiche Ideen.

 

Herr Kelle, wären Sie noch mal gern jung?

Auf der einen Seite schon, wer will nicht gern jung sein? Auf der anderen Seite hätte man gern die Erfahrung, die man jetzt hat. Beides aber passt nicht zusammen. Also, ich denke, ich bleibe so alt, wie ich bin.

Die Frage zielte darauf, ob es Jugendliche heute einfacher haben als früher.

Sie haben es an manchen Stellen sicher schwerer. Es fiel uns leichter, uns zu entscheiden, denn es gab ja nicht viel. Wir hatten kaum Kinos, keine Medien wie heute, und wir hatten keine zehn, sondern nur zwei Jeans im Schrank. Heute müssen sich junge Leute viel eher überlegen, wo sie hinwollen und welcher Clique sie angehören wollen. Oder was sie von sich öffentlich preisgeben wollen und was nicht.

Sie sprechen von einer Generation, die sich das Leben ohne Facebook und Instagram kaum vorstellen kann.

Oder dass das Kinderprogramm im Fernsehen um vier anfängt und um sechs vorbei ist. Wenn wir jemanden sehen wollten, mussten wir raus auf die Straße, denn mit den Geschwistern hat man nicht so viel geredet. Aber auf der Straße traf man immer jemanden.

Sie haben die Jugendhausgesellschaft zum mittelständischen Betrieb mit 800 Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 42 Millionen Euro aufgebaut. Erfüllt Sie das mit Stolz?

Klar macht es einen ein bissle stolz, keine Frage. Aber ich habe das ja gern gemacht. Bis auf ganz wenige Ausnahmen hat mir die Arbeit immer Spaß bereitet. Es ist toll, wenn du Generationen aufwachsen siehst und erkennst, was für ein Talent in vielen Leuten steckt. Manche gehen dabei nicht den geraden, sondern den schwierigeren Weg, der um ein paar Ecken herum führt. Aber das spielt keine Rolle: Fast alle gehen sie ihren Weg. Wenn man dazu einen Beitrag leisten konnte, ist das wunderbar.

Was hat in dem Job mehr geholfen, die Buchdruckerlehre oder die Erzieherausbildung?

Die Buchdruckerlehre hat mir gutgetan, weil sie mir Struktur gab. Es war klar, was man zu tun oder was man zu lassen hatte. Aber ohne eine pädagogische Ausbildung hätte ich den Job nicht machen können. Man darf zwar nicht alles an sich herankommen lassen, aber man muss genug Empathie besitzen, um zu verstehen, was junge Leute umtreibt. Insofern haben mir beide Ausbildungen geholfen.

Wäre es heute denkbar, dass jemand ohne BWL-Studium so einen Job als Geschäftsführer bekommt?

Ich denke, das ist schwierig, hoffe aber gleichzeitig, dass die Möglichkeit noch besteht. Es kann nicht schaden, ein bisschen über die Welt Bescheid zu wissen und zuvor Einblicke in andere Arbeitsbereiche bekommen zu haben.

Manche Leute machen in ihrem Job Karriere und stellen dann fest: Jetzt bin ich oben, aber mache nur noch Dinge, die ich nicht machen wollte. Wie war das bei Ihnen?

Ich kann das für mich nicht behaupten. Irgendwann war der Punkt erreicht, an dem ich mir sagte: „Entweder höre ich mit der Sozialarbeit auf, oder ich mache mehr eine Verwaltungstätigkeit.“ Andere mögen das anders empfinden, aber bei mir war das so. Einmal saß eine Jugendliche vor mir mit ihrem Weltschmerz. Wäre ich ehrlich gewesen, hätte ich sagen müssen: „Putz dir die Nase, morgen geht das Leben weiter.“ Aber das geht natürlich nicht und hilft der Frau auch nicht weiter. Man muss die Leute ernst nehmen. An dem Punkt habe ich gemerkt, dass ich aus der Rolle rausgewachsen war.

Ein Schulfreund von mir hat Anfang der achtziger Jahre Zivildienst im Jugendhaus Neugereut gemacht. Er hat mir immer von einer coolen Socke namens Siggi erzählt. Können Sie sich vorstellen, wen der gemeint hat?

Klar. In Neugereut und anderen Jugendhäusern, in denen ich geschafft habe, war ich der Siggi. Das war eine gute Zeit.

Eine gefürchtete Veranstaltung war die Supervision, bei der die Mitarbeiter im Stuhlkreis Probleme besprachen.

So eine Supervision ist wichtig, um die eigene Arbeit zu hinterfragen. Und sich von Kollegen hinterfragen zu lassen. Aber manche Probleme, die wir dort besprochen haben, hätte man auch anders lösen können.

Als Ihre Kinder noch jung waren, waren die mal in einem Ihrer Jugendhäuser?

Ja, aber dann nur inkognito. Die wollten auf keinen Fall, dass man weiß, woher sie kommen.

Und daheim mussten Sie sich dann anhören, was falsch läuft?

Klar haben die mir gesagt, was für sie wichtig ist und wie sie es machen würden. Es ist überhaupt wichtig, von Jugendlichen Rat anzunehmen.

In der Stuttgarter Jugendhausgesellschaft sitzen natürlich auch Stadträte. Haben Parteien versucht, auf Ihre Arbeit Einfluss zu nehmen?

Nein, das ist nie passiert. Aber natürlich haben wir über Dinge diskutiert, das ist auch die Aufgabe der Gesellschafter, den Laden zu überwachen und zu fragen, was wir machen. Aber eine politische Einflussnahme gab es nie. Das rechne ich ihnen hoch an, egal, wer bei uns Gesellschafter war.

Wenn Sie die 23 Jahre Revue passieren lassen: Gibt es Dinge, die Sie aus heutiger Warte anders machen würden?

Klar hat man auch Fehler gemacht. Vor einigen Jahren musste ich ein Projekt mit dem Titel „Work and Box“ aufgeben, weil ich die Finanzierung nicht hingekriegt habe.

Um was ging es da?

Um junge Intensivtäter, die innerhalb eines Jahres ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen sollten. Es ärgert mich heute noch, dass das nicht geklappt hat. Ich hätte da vielleicht was anders machen müssen, dann hätte es hingehauen.

Was ist die schwierigere Klientel: die Kinder und Jugendlichen, die ins Jugendhaus kommen, oder deren Eltern?

Mit Kindern und Jugendlichen kann man im Normalfall immer sprechen.

Das lassen Sie jetzt aber nicht so stehen?

Nein, mit Eltern kann man auch sprechen. Aber das ist was anderes. Eltern wollen für ihre Kinder immer das Gute. Kinder und Jugendliche wollen manchmal gar nicht gut sein. Die wollen Stress machen und suchen die Auseinandersetzung. Das ist der buntere Teil in dem Job: Wir Pädagogen müssen uns so stellen, dass man sich an uns reiben kann. Wo Widerstand entsteht, können Jugendliche prägende Erfahrungen machen.

Was geben Sie Ihrem Nachfolger Ingo-Felix Meier mit auf den Weg?

Er braucht von mir keine Ratschläge. Er kennt die Gesellschaft bestens. Wenn er den Spaß an der Arbeit behält, wird er einen guten Job machen.

Herr Kelle, Sie sind nur noch wenige Tage im Amt. Fürchten Sie nicht, ohne die Arbeit in ein Loch zu fallen?

Nein, die Gefahr sehe ich nicht. Ich werde meine Freiheit genießen. Ich werde Motorrad fahren, Ski fahren, und ein paar Menschen haben nachgefragt, ob ich bei ihnen mitmachen will. Außerdem hat meine Frau, die mich immer unterstützt hat, auch noch ein paar Aufgaben für mich. Und ich bin in diesem Jahr zweimal Großvater geworden, da steht schon die nächste Generation. Mir dürfte es kaum langweilig werden.