Der Kontrast zwischen Licht und Dunkel wirkt jetzt besonders stark. Jan Sellner über die Gleichzeitigkeit von Blühen und Verblühen.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Es war diese Woche in der Zeitung zu lesen und muss deshalb stimmen: „Stuttgart blüht auf!“ Der Winter sucht das Weite, die Menschen suchen das Freie. Draußen spielen das Leben und die Musik. Je später der Frühlingsbeginn, desto lauter. Die Lebensfreude kehrt für alle sichtbar in die City zurück: Flanieren auf dem Schlossplatz, Glücklichsein beim Hans-im-Glück-Brunnen, Sich-Zeigen im Dorotheen-Quartier. Den Frühaufstehern singen die Vögel. Die Nachtschwärmer haben es wärmer. Stuttgart – wie schön – ist wieder eine Stadt des Lächelns.

 

Das ist die eine Seite – die Sonnenseite. Nicht nur des Frühlings, sondern des Lebens überhaupt. Gleichzeitig richten die Sonnenstrahlen nichts aus gegen die Dunkelheit, die aus Krankheiten und innerer Not erwächst. Ein Zustand, der sich mal überfallartig breit macht, mal langsam heraufzieht. Unabhängig von der Jahreszeit. Nur dass der Kontrast zwischen Licht und Dunkel jetzt besonders stark wirkt. Und so sticht es ins Auge und berührt es das Herz, wenn Vorhänge zugezogen werden – nicht weil die Sonne die Bewohner blenden würde, sondern weil der Tod Einzug gehalten hat. Die Gedanken gehen an den an Träumen reichen, 52-jährigen Fotografen und Familienvater Oliver Hartmann, der sich in dieser Woche von seinen Lieben verabschieden musste, weil der Krebs stärker war als sein Wille zu bleiben.

Die Gedanken gehen auch an den arbeitsamen Mann in der weiteren Nachbarschaft, der seinem Leben aus einer unergründlichen Verzweiflung heraus ein Ende setzte. Sie gehen an die bettlägrige Frau, die ihre Kräfte unaufhaltsam schwinden sieht, während gleichzeitig die Natur erwacht. Keiner, der in seiner Umgebung nicht ähnliche Fälle kennt.

„Es stirbt sich was für einige Zeit“

Kommen und Gehen, Aufblühen und Verschwinden, das ist weiß Gott – wo ist der in diesen Momenten überhaupt? – nichts Neues, doch es ist auch nichts, an das man sich gewöhnt. Niemand hat für die Gleichzeitigkeit der verschiedenen Stufen des Seins treffendere Worte gefunden als der lebensweise Dichter Joachim Ringelnatz: „Überall ist Wunderland, überall ist Leben. Bei meiner Tante im Strumpfband wie irgendwo daneben. Überall ist Dunkelheit. Kinder werden Väter. Fünf Minuten später stirbt sich was für einige Zeit. Überall ist Ewigkeit.“

Wer nicht damit klar kommt, dass „sich was stirbt“, gerade wenn es sich um einen geliebten Menschen handelt, und wer nicht das Glück hat, jemanden zu haben, der einen hält, der muss sich dennoch nicht verlassen fühlen. Im Hospitalhof steht Betroffenen eine Trauergruppe offen. Ebenso im Hospiz St. Martin. Das sind Lichtblicke, wenn es trotz Sonne nicht hell werden will. Das gilt auch für andere Angebote der Seelentröstung in der Stadt. Alles hat seine Zeit – oft auch seine Gleichzeitigkeit. Genießen Sie den Frühling!

jan.sellner@stzn.de