Am 9. November vor 75 Jahren brannten die Synagogen, der Nationalsozialismus zeigte sein wahres Gesicht. Wer den Fall der Mauer am 9. November 1989 feiern will, tut gut daran, sich der ganzen deutschen Geschichte zu stellen. Ein Essay von Julia Schröder.

Stuttgart - Die höchsten Staatsorgane werden Reden halten, Ausstellungen und Gedenkbeiträge in Funk, Fernsehen und Zeitungen werden daran erinnern, was geschehen ist, und diejenigen, die dabei waren, werden alles wieder durchleben. So wird es sein, heute in einem Jahr, wenn die Bundesrepublik Deutschland den 25. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November 1989 feiert.

 

Und es gibt ja auch einiges zu feiern: das Ende von Kaltem Krieg und Eisernem Vorhang, das Ende eines gescheiterten Langzeitexperiments mit 17 Millionen größtenteils unfreiwilligen Teilnehmern, nicht zuletzt das Ende einer Lebenslüge der westdeutschen Linken, nämlich der, die andauernde Teilung des Landes sei „die Strafe für Auschwitz“ – eine Strafe, die praktischerweise nur die Ostdeutschen zu ertragen hatten. Damals feierten die Deutschen all das, vor allem aber sich selbst für eine endlich einmal auf deutschem Boden ans Ziel gelangende „Freiheitsbewegung“ (so der StZ-Politikchef Werner Birkenmaier in einem Leitartikel über den Erfolg der Massendemonstrationen in der DDR, der just am Tag des Mauerfalls gedruckt wurde).

Freudentag und Tiefpunkt in der deutschen Geschichte

Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenzen und dem faktischen Ende der DDR bekam der 9. November historische Bedeutung – allerdings keineswegs zum ersten Mal. Während der fünf Jahrzehnte, die diesem Freudentag vorausgegangen waren, hatte das Datum für einen anderen Wendepunkt gestanden, einen Tiefpunkt in der deutschen Geschichte: für die Pogromnacht 1938, die Nacht, in der Deutsche überall im Land, in kleinen Ortschaften und in den Großstädten, die Synagogen in Brand steckten und plünderten, die Geschäfte ihrer jüdischen Nachbarn ausraubten und demolierten, die Nacht, in der Bürger zuschauten, wie andere Bürger, nur weil sie Juden waren, aus ihren Wohnungen gezerrt, verprügelt und fortgeschafft wurden, wie SA-Männer weinende Frauen und Kinder misshandelten, wie aufgeputschte Jugendliche jüdische Kultgegenstände als Trophäen davonschleppten, kurz, wie Deutschland der Welt demonstrierte, „dass es kein Land der Vernunft und des Rechts mehr sein wollte“, wie der Historiker und Antisemitismusforscher Wolfgang Benz es zusammengefasst hat.

Benz bezeichnet in seinem Essay „Erziehung zur Unmenschlichkeit“ (1994) das Novemberpogrom 1938 als „Auftakt zu der letzten Etappe nationalsozialistischer Rassenpolitik: der Vernichtung der Juden“. Aber er schreibt über die Ereignisse jener Nacht und der folgenden Tage, in denen die NS-Führungsriege die Drangsalierung der jüdischen Deutschen in weitere empörende Gesetze und Erlasse goss, eben auch den folgenden Satz: „Bis Auschwitz reichte keine Vorstellungskraft.“ Man muss hinzufügen: für das, was im nationalsozialistischen Deutschland in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 geschehen war, hätte die Vorstellungskraft der meisten Deutschen zuvor auch nicht ausgereicht.

„Das glücklichste Volk der Welt“

Vielleicht ist es das, was diese beiden „Schicksalstage“ der Deutschen eint: dass das Unvorstellbare vorstellbar, ja, wirklich wird. Denn auch ein Ende der deutschen Teilung hätte noch ein Jahr vor dem Mauerfall kaum jemand, ob in Ost- oder in Westdeutschland, in absehbarer Zeit für möglich gehalten: Es „war voraussehbar, aber wurde nicht vorausgesehen, es lag jenseits dessen, was die Fantasie auch erfahrener Politiker noch erreichte“, so brachte der 2008 verstorbene langjährige Berlin-Korrespondent des WDR und Ostpolitik-Experte Peter Bender das Geschehen jener Wochen im Spätherbst 1989 fünf Jahre später auf den Punkt.

Am Abend, als die DDR-Führung die Grenze für geöffnet erklärte, fehlte es den offiziellen Stimmen dementsprechend weder an dankbarer Euphorie noch an Bewusstsein für die weltgeschichtliche Bedeutung des Augenblicks. Nachdem die Parlamentarier im Bonner Bundestag spontan die dritte Strophe des Deutschlandliedes „Einigkeit und Recht und Freiheit“ intoniert hatten, sagte Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper, untermalt von den etwas weniger sublimen Gesängen der Berliner („So ein Tag, so wunderschön wie heute . . .“), in dieser Nacht sei „das deutsche Volk das glücklichste Volk der Welt“. Tags drauf gab Bundeskanzler Helmut Kohl die Richtung vor – „Wir sind und bleiben eine Nation“ – und sprach von einer „großen Bewährungsprobe“ für das deutsche Volk, während sein Vorvorgänger Willy Brandt sich mit ihm im Grundsatz einig zeigte: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Und Bundespräsident Richard von Weizsäcker sah einen „tiefen historischen Einschnitt in die Nachkriegsgeschichte“. Wie wir heute wissen, war die Nachkriegsgeschichte in dieser Nacht beendet.

Die Korrektur der gescheiterten 48er-Revolution

Die „geschichtliche Dimension“, von der in Stellungnahmen und Leitartikeln die Rede war, erweiterte der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel am selben Tag ins 19. Jahrhundert: Es sei die erste demokratische Revolution auf deutschem Boden, die von Erfolg gekrönt sein könnte. „Es wäre die Korrektur von 1848.“ Das Scheitern der vom Bürgertum in Deutschland und Österreich getragenen Märzrevolution, auf die Vogel damit anspielte, markiert ebenfalls ein 9. November: die standrechtliche Erschießung des Paulskirchenabgeordneten Robert Blum am 9. November 1848 in Wien.

Dass dem SPD-Chef in diesem Augenblick eine andere immerhin nicht ganz schiefgegangene deutsche Revolution entfallen war, mag der Aufregung der Stunde geschuldet gewesen sein. Vielleicht hatte es aber auch damit zu tun, wie diese – nämlich die Ausrufung der Republik am 9. November 1918 nach den Soldaten- und Arbeiteraufständen, mit denen der Erste Weltkrieg endete – von ihren wesentlichen Protagonisten, seinen Vorgängern Philipp Scheidemann und Friedrich Ebert, betrieben worden war. Es handelte sich dabei kaum um den alle Gesellschaftsbereiche erfassenden, radikalen Umsturz, sondern von Anfang an um „Konkursverwaltung“ der Hohenzollern-Monarchie (so der Historiker Heinrich August Winkler). Zudem wurde die „Novemberrevolution“ als Referenzdatum der ersten deutschen Demokratie beschädigt durch die sofort aufkommenden „Dolchstoß“-Legenden, die letztlich auch Adolf Hitler am 9. November 1923 bei seinem operettenhaften, blutig niedergeschlagenen Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle für seine Zwecke einsetzte.

War die Tatsache, dass dies auf den Tag fünf Jahre nach der Ausrufung der Republik geschah, auch im Wesentlichen Zufall, passte die Koinzidenz doch ganz gut ins Konzept. Denn „der Hitler-Putsch zielte darauf ab, die deutsche Revolution von 1918/19 rückgängig zu machen“, so der Historiker Hans Mommsen. Und, so Mommsen weiter, mit den alljährlichen Gedächtnisritualen im Bürgerbräukeller wurde der 9. November 1923 nach 1933 zum „zentralen historischen Bezugspunkt des nationalsozialistischen Selbstverständnisses“.

Der schnell organisierte „spontane Volkszorn“

Deshalb waren die führenden Männer des NS-Regimes im Münchner alten Rathaus zur Gedenkfeier versammelt, als am Abend des 9. November 1938 die Nachricht eintraf, der einige Tage zuvor von einem jungen Juden in Paris angeschossene Diplomat Ernst vom Rath sei seinen Verletzungen erlegen. Goebbels’ Hassrede gegen die Juden und die wie üblich eher vagen Anweisungen und Halbbefehle der Parteigrößen konnten unverzüglich an die „Alten Kämpfer“ und SA-Unterführer weitergegeben werden. Auch deshalb gelang es der SA so schnell, den tobenden Mob und den „spontanen Volkszorn“ zu organisieren, die Exzesse von brachialer Gewalt und Niedertracht zu steuern, die jahrzehntelang als „Reichskristallnacht“ verniedlicht wurden.

Tatsächlich nahm nach dem 9. November 1938 die staatliche, systematische Entrechtung der deutschen Juden, die mit den Gesetzen „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (1933) und „zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre“ (1935) aus öffentlichen Ämtern entfernt und aus dem deutschen „Volkskörper“ ausgestoßen worden waren, unverhohlen räuberische Züge an. Die Versicherungsleistungen, die den jüdischen Gemeinden und Geschäftsleuten zum Ersatz der Zerstörungen zugestanden hätten, mussten diese als „Sühne“ in Höhe von einer Milliarde Reichsmark an den Staat abführen. Es folgte die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben“, womit die vollständige „Arisierung“, also die Übernahme von Unternehmen im jüdischen Besitz durch nichtjüdische Deutsche, bewerkstelligt wurde. Kapitalvermögen wurden eingezogen, ebenso die Erlöse aus den Zwangsverkäufen von Immobilien, Wertpapieren und Schmuck. Große Ausbrüche von „Volkszorn“ sollte es in Deutschland nicht mehr geben – wegen der unguten Wirkung auf die eigene Bevölkerung und auf das Ausland. Der industrielle Massenmord an den europäischen Juden wurde später mit geräuscharmer Effizienz „durchgeführt“.

Die leise Hoffnung, es könnte einmal anders zugehen

Das Gedenken an die Pogromnacht, so der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, könnte also etwas „Beruhigendes“ haben, weil es sich mit etwas „evident Unwiederholbarem“ beschäftigt: „Die nach dem 9. November eingetretene Entwicklung aber ist für das Gedenken sehr viel beunruhigender, weil wir darin das Gesicht der modernen Gesellschaft erkennen.“

Der 9. November 1989, als die Grenze geöffnet wurde und die Menschen plötzlich von drüben nach hüben spazieren konnten, wie sie wollten, der Überwachungs- und Mangelstaat DDR unter dem Druck friedlicher Proteste in sich zusammenbrach und all dies ohne Blutvergießen geschah, war ein Augenblick, in dem das Unvorstellbare Wirklichkeit wurde. In vielen derjenigen, die diesen Augenblick vor 25 Jahren erlebten, hat er etwas ausgelöst, das bis heute nachwirkt, eine leise Hoffnung, dass es in der Geschichte einmal anders zugehen könnte, glückhafter.

Zur Erinnerung an diesen 9. November gehört aber die an all die anderen „Schicksalstage“, die Zufall oder historische Entwicklung auf den 9. November fallen ließen. Der Historiker Heinrich August Winkler sieht ihn als „Tag des Nachdenkens über den Gang der deutschen Geschichte. Einheit in Freiheit: was seit 1990 Wirklichkeit ist, war das Streben einer breiten Bewegung von Liberalen, Demokraten und Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert.“ Das alles trifft zu – wird aber wahr nur mit dem erweiterten Blick, den Heinz Galinski, der 1992 verstorbene langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, 1988 zum 50. Jahrestag der Pogromnacht forderte: „Wir müssen uns der Geschichte so stellen, wie sie sich ereignet hat, in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit.“