Auch in diesem Sommer ist das Meereis in der Arktis wieder stark geschrumpft. Für die Schifffahrt bleibt die Region aber trotz des Klimawandels eine Herausforderung.

Stuttgart - Es war eine echte Nervenprobe. Eigentlich war der Brite John Ross 1829 mit dem Dampfer Victory aufgebrochen, um endlich die berüchtigte Nordwestpassage zu bezwingen. Jenen Seeweg also, der durch die kanadische Arktis vom Atlantik in den Pazifik führt. Doch Ende September wurde die Victory in der Nähe der Baffininsel vom Eis eingeschlossen – und sollte jahrelang nicht freikommen. 1832 gaben die Männer ihr Schiff auf und wanderten über das Eis bis zu einem Jahre zuvor gestrandeten Wrack. Erst ein weiteres Jahr später konnten sie mit dessen Beiboot durch das aufbrechende Eis entkommen und wurden schließlich von einem britischen Schiff gerettet.

 

So ist es in den frühen Tagen der Polarforschung vielen Entdeckungsreisenden gegangen, etliche haben ihren Ausflug in die Arktis mit dem Leben bezahlt, denn das Eis war unberechenbar. Inzwischen scheint der Klimawandel den gefrorenen Panzer des Nordpolarmeers zwar deutlich zu dezimieren. Wie genau sich das Eis auf dem Ozean verhält, ist aber bis heute schwer einzuschätzen. Gerade haben Wissenschaftler vom Alfred-Wegener-Institut, dem Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI) in Bremerhaven zusammen mit Kollegen der Universität Bremen ihre jüngste Meereis-Bilanz veröffentlicht. Demnach war der Sommer 2018 nicht nur in Europa ungewöhnlich warm. Er hat seine Spuren auch in der Arktis hinterlassen. „Jedes Jahr im September erreicht das Meereis dort seine geringste Ausdehnung, bevor wieder größere Teile des Ozeans zufrieren“, erklärt Christian Haas, der am AWI die Sektion Meereisphysik leitet. In diesem Jahr ist die Eisdecke im Laufe des Sommers auf etwa 4,4 Millionen Quadratkilometer geschrumpft und war damit rund 300 000 Quadratkilometer kleiner als 2017.

Satellitendaten als Basis

Ermittelt haben die Forscher diese Werte aus den Daten von amerikanischen und japanischen Satelliten, die passive Mikrowellenradiometer zur Wetterbeobachtung an Bord haben. Diese Messgeräte können durch Wolken und Dunkelheit sehen und in hoher räumlicher Auflösung die Vereisung des Meeres erfassen.

„An den Ergebnissen sehen wir, dass 2018 kein besonders spektakuläres Jahr war“, sagt Christian Haas. So war die Eisdecke auf dem arktischen Ozean immerhin 16 Prozent größer als bei ihrem bisherigen Minusrekord im Sommer 2012. Trotzdem wird dieser Sommer als einer der eisärmsten seit dem Beginn der Messungen im Jahr 1979 in die Geschichte eingehen, denn die gefrorene Fläche war 2018 immerhin 1,9 Millionen Quadratkilometer kleiner als im Durchschnitt der Jahre 1981 bis 2010. Der Trend zu schrumpfenden Meereisflächen halte also an, resümiert der AWI-Forscher. Auf absehbare Zeit werde das Meereis die Dimensionen früherer Jahrzehnte wohl nicht wieder erreichen.

Durch das Schmelzen der weißen Schollen verschlechtern sich nicht nur die Lebensbedingungen für die unterschiedlichsten Kältespezialisten – von den Meeresalgen bis zu den Eisbären. Es dürften auch selbstverstärkende Prozesse in Gang kommen, die den hohen Norden weiter auftauen lassen. Wenn die Sonne zum Beispiel häufiger auf dunkles Wasser statt auf glitzerndes Eis scheint, absorbiert der Ozean mehr Wärmestrahlung – und heizt sich dadurch noch stärker auf. Das alles kann Folgen für das Klima und den Meeresspiegel haben, die weit über die Arktis hinaus reichen.

Deutliche regionale Unterschiede

Doch der Eisschwund erfasst nicht alle Regionen gleichermaßen. „Wie in jedem Jahr gibt es deutliche regionale Unterschiede“, sagt Christian Haas. Zu den besonders eisarmen Regionen des Jahres 2018 gehören die Barentssee östlich von Spitzbergen sowie die Kara- und die Laptewsee vor der sibirischen Küste. Dadurch konnten in diesem Sommer viel mehr Waren durch die Nordostpassage vor der sibirischen Küste transportiert werden als 2017. Begleitet von Eisbrechern fahren Tank- und Frachtschiffe jetzt regelmäßig auf dieser früher oft unpassierbaren Route zwischen dem Atlantik und dem Pazifik hin und her.

Auch für Polarforscher ist so manches Untersuchungsgebiet in diesem Jahr leichter zu erreichen. So hat der vom AWI betriebene Forschungseisbrecher Polarstern Anfang September Kurs durch die Nordostpassage auf die Laptewsee genommen. „Anders als bei früheren Expeditionen musste das Schiff diesmal kein Eis brechen, sondern konnte am Südrand des Eises unbehelligt seinem Zielgebiet entgegen fahren“, sagt Christian Haas.

So viel Glück hatten die Crews nicht überall. „Im August war das Eis am Nordpol so dick, dass auch für Eisbrecher kaum ein Durchkommen war“, berichtet der Wissenschaftler. Das bekamen auch AWI-Forscher zu spüren, die sich mit dem schwedischen Eisbrecher Oden auf den Weg dorthin gemacht hatten. Es gab kaum noch offene Wasserrinnen, die man hätte nutzen können. Und der Wind hatte die Schollen zu einer kompakten Masse zusammengetrieben, die unter hohem Druck stand. „Unter solchen Umständen kann sich auch ein moderner Eisbrecher im Eis verklemmen und eingefroren werden“, sagt Christian Haas. Der Oden ist das zwar nicht passiert, sie erreichte ihr Ziel aber nur mit Mühe.

Auch der Wind spielt eine Rolle

Ähnlich unwirtliche Bedingungen herrschen in diesem Jahr auch in der Nordwestpassage vor Kanada. Anders als in den Vorjahren verhindert dort dichtes Treibeis ein rasches Vorankommen. Kanada hat deshalb erstmals seit Jahren wieder eine Eiswarnung herausgegeben, die sich vor allem an kleinere Schiffe richtet. „Die großen regionalen Unterschiede machen es sehr schwierig, den Rückgang des arktischen Meereises zu verstehen und vorherzusagen“, sagt Christian Haas. Denn nicht nur die Temperatur entscheidet darüber, wo das Eis den Sommer übersteht und wo nicht. Eine wichtige Rolle spielt auch der Wind, der die Schollen vor sich hertreibt und manche Gebiete mit dickem Eis verstopft, während er anderen offenes Wasser beschert. „Für die nächsten paar Tage kann man solche Entwicklungen anhand der Wettervorhersage recht gut prognostizieren“, so der Forscher.

Reedereien, die Containerschiffe durch die Arktis schicken wollen, bräuchten allerdings Prognosen über die Eissituation der nächsten Monate. „Solche saisonalen Vorhersagen sind aber nach wie vor nicht möglich“, sagt Christian Haas. „Wo in diesem Jahr wenig Eis schwimmt, kann schon im nächsten kein Durchkommen mehr sein.“ Ganz wie zu John Ross’ Zeiten. Deshalb wird sich eine kommerziell lohnende Schifffahrtsroute durch den hohen Norden wohl vorerst nicht etablieren.

Wege durch das Eis

Nordostpassage Die etwa 6500 Kilometer lange Nordostpassage führt entlang der Küste Europas und Sibiriens bis in den Fernen Osten. Jahrhundertelang spekulierten viele europäische Handelsnationen darauf, dass man auf dieser Route die Gewürzinseln Südostasiens viel schneller erreichen könnte, als wenn man um ganz Afrika herum segelte. Zwar verkürzte der 1869 eröffnete Suezkanal die Strecke von Rotterdam nach Tokio auf 21 100 Kilometer. Doch entlang der Küste Sibiriens musste man zwischen den beiden Häfen nur 14 100 Kilometer zurücklegen. Das klang verlockend. Doch eine Expedition nach der anderen scheiterte im Packeis. Erst der Schwede Adolf Erik von Nordenskiöld schaffte 1878/79 die Passage mit einer Überwinterung.

Nordwestpassage Die Route durch die kanadische Arktis vom Atlantik in den Pazifik war genauso legendär und heiß umkämpft wie die Nordostpassage. Schon der Brite Martin Frobisher hatte zwischen 1576 und 1578 zum ersten Mal nach diesem Seeweg gesucht. Doch erst der Norweger Roald Amundsen schaffte es zwischen 1903 und 1906, mit seinem kleinen Schiff Gjøa die Strecke durch das Labyrinth aus Eis und Inseln zurückzulegen. Insgesamt ist die Nordwestpassage etwa 5780 Kilometer lang.