Wer an der Schilddrüsenerkrankung Hashimoto leidet, muss behandelt werden. Oft ist der Therapieansatz aber der falsche.

Stuttgart - Hashimoto sei eine „unbekannte Volkskrankheit“, schreibt RTL-Moderatorin Vanessa Blumhagen in ihrem neuen Buch „Jeden Tag wurde ich dicker und müder“. Zahlenmäßig überträfen die zehn Millionen Hashimoto- sogar die sieben Millionen Diabetes-Patienten hierzulande. Warum ist Diabetes dann prominenter als Hashimoto? Warum werden die „Hashi“-Patienten nicht ernst genommen, sondern müssen sich von Arzt zu Arzt und Website zu Website hangeln, um auf Verständnis und Hilfe zu stoßen, fragt die Autorin entrüstet.

 

Ihr „Leidensweg“ habe sie zu unterschiedlichsten Ärzten geführt, bis endlich die Diagnose gestellt wurde: Hashimoto-Thyreoiditis. Das ist eine seltene Autoimmunerkrankung, die zu einer chronischen Entzündung und letztlich Zerstörung der Schilddrüse führt. Der Prozess vollzieht sich allerdings nicht rasant, sondern schleichend über Jahre bis Jahrzehnte. Obendrein gibt es Patienten mit zerstörter Schilddrüse, die völlig beschwerdefrei leben. Panikmache ist also nicht angebracht.

Entdecker der Krankheit

Benannt ist die Krankheit nach dem japanischen Arzt Hakaru Hashimoto (1881 bis 1934), der sie 1912 als erster beschrieb. Hashimoto ist die erste bekannt gewordene Autoimmunerkrankung.

Die Symptome sind vielfältig, aber nicht eindeutig. Anfangs kann es zu einer Überfunktion der Schilddrüse kommen mit Reizbarkeit, Schlafstörungen, Schwitzen, Herzrasen, Menstruationsstörungen. Langfristig setzen sich die Symptome der Unterfunktion durch: Frieren, Ödeme, Kloß im Hals, Antriebslosigkeit, Muskelschwäche, Depression, Juckreiz, Haarausfall, Verdauungsstörungen, Konzentrationsschwäche, Müdigkeit.

Nur bei einem Bruchteil der Patienten verläuft die Krankheit schwer. Das zeigt schon der Fall Blumhagen: Obwohl die Patientin ihre Krankheit dramatisch beschreibt, kann sie ihr ganz normales, sogar recht umtriebiges Leben mit Talkshows und Trips in alle Welt weiterführen. Auch das beruflich bedingte, zweimal wöchentliche Pendeln von Hamburg nach Köln stand nie zur Disposition. Auf einen Arzt, der ihr rät, nicht so viel durch die Gegend zu fliegen, reagiert die Patientin mit Spott.

Warnung vor zu häufiger Diagnose

„Hashimoto ist keine Volkskrankheit. Man muss die Krankheit ernst nehmen, darf sie aber nicht zu häufig diagnostizieren“, sagt Oswald Ploner, Leitender Arzt am Schilddrüsenzentrum am Diakonie-Klinikum Stuttgart. In Westeuropa seien schätzungsweise zwei Prozent der Bevölkerung betroffen, siebenmal mehr Frauen als Männer. Da die Daten in den USA auf genauen Erhebungen beruhen und dort nur 0,3 Prozent Betroffene gezählt wurden, dürften es hierzulande sogar noch deutlich weniger sein, meint Ploner – weil die Schilddrüsenunterfunktion in den USA verbreiteter sei. Die Krankheit ist zum Teil erblich bedingt. Auslöser sind meist Stress, Virusinfekte oder Hormonumstellungen, etwa in Pubertät, Schwangerschaft oder den Wechseljahren.

Wie kommt Blumhagen nun auf die zehn Prozent, die an der Krankheit leiden sollen? Ganz einfach: Bei etwa jedem zehnten Deutschen finden sich positive Schilddrüsenantikörper im Blut. Aber nicht jeder Zehnte ist deswegen krank. „Für Hashimoto kommen in der Regel zu den positiven Antikörpern auch erhöhte TSH-Werte und erniedrigte Schilddrüsenhormonwerte“, erklärt Gottfried Rudofsky, Oberarzt am Interdisziplinären Schilddrüsenzentrum der Uniklinik Heidelberg. TSH ist ein Hormon, das die Schilddrüse stimuliert und von der Hirnanhangdrüse ausgeschüttet wird. Je schlechter die Schilddrüse arbeitet, desto mehr TSH-Hormon schüttet die Hirnanhangdrüse aus. Für den Arzt ist ein erhöhter TSH-Wert daher stets Anlass, sich die Schilddrüse genauer anzusehen. Diese schüttet ihrerseits die Schilddrüsenhormone T3 und T4 aus.

Trenddiagnose oder Volkskrankheit

Für die Hormone gibt es Referenzwerte. Der Greifswalder Epidemiologe Henry Völzke hat sie 2005 mittels repräsentativer Stichprobe an 1488 gesunden Personen erhoben. Danach lagen die TSH-Referenzwerte für Deutschland bei 0,25 bis 2,12. Demnächst wird Völzke neue Daten veröffentlichen. „Ich rechne mit einer Verschiebung nach rechts: Die neuen Referenzwerte werden zwischen 0,3 und 4 liegen“, sagt Völzke. Grund sei die stärkere Jodversorgung der Bevölkerung. Jod treibt den TSH-Wert in die Höhe. Länder wie Island oder Japan haben deshalb noch höhere Werte. In den USA ist es aufgrund der dort seit Jahrzehnten praktizierten Jod-Versorgungsprogramme zu einer Jod-Überversorgung gekommen, so dass deren Referenzwerte ebenfalls hoch sind.

Das Problem: Viele Ärzte und mindestens so viele Patienten nehmen ein Abweichen von den Referenzwerten zum Anlass, vorschnell mit einer Hormontherapie zu beginnen oder diese einzufordern. „Dabei bedeuten erhöhte Referenzwerte noch keine Therapieentscheidung. Sie sind nur von diagnostischer Bedeutung“, betont Völzke. Die Experten sind sich einig, dass eine Hashimoto erst ab einem TSH-Wert von 10 behandelt werden sollte. Zusätzlich muss das Ultraschallbild deutlich eine verkleinerte und strukturauffällige, „echoarme“ Schilddrüse zeigen.

Werte können auch mal schwanken

„Ein einmalig erhöhter TSH-Wert besagt noch nichts. Er kann jahreszeitlich oder individuell bedingt sein“, erklärt Rudofsky und berichtet von einer Studentin, die im Austauschjahr Hormone verschrieben bekam. „Dabei hatte sie einen Virusinfekt durchgemacht und sehr viel Stress um die Ohren, sie war einfach platt.“ Es habe viel Kraft gekostet, die Frau davon zu überzeugen, dass sie keine Medikamente brauchte. Lauscht man den Fachleuten, so hört man auch dies: Hashimoto-Patienten können recht anstrengend sein. Viele kreisen nur um sich selbst, einige haben auch psychische Störungen. Kein Wunder, dass Hashimoto-Bücher und –Praxen florieren.

Dabei seien ihre Beschwerden letztlich keinem eindeutigen Krankheitsbild zuzuordnen, meint die Hamburger Gesundheitswissenschaftlerin und Hormonspezialistin Ingrid Mühlhauser. „Natürlich gibt es behandlungsbedürftige Schilddrüsenunterfunktionen. Aber das sind die großen Ausnahmen.“ Mühlhauser geht soweit, Hashimoto als „erfundene Krankheit“ einzustufen, weil die Studienlage „sehr dürftig“ sei. Stattdessen führe die Diagnose dazu, dass Patientinnen regelmäßig einbestellt und kontrolliert würden. Positiv formuliert: Die Arzt-Patienten-Bindung wächst. Negativ ausgedrückt: Der Arzt verschafft sich eine dauerhafte Klientel.

Vor allem Privatpraxen stellen die Diagnose gerne

Auffallend oft sind übrigens gerade Privatpraxen auf Hashimoto spezialisiert. Für jüngere Patienten bedeutet die Diagnose „Hashimoto“ aber auch, bei Versicherungen höher eingestuft zu werden: Sie zahlen höhere Beiträge, weil sie den Stempel „chronisch krank“ tragen. Auch deswegen lohnt es sich nicht, allzu eifrig um das Etikett „Hashimoto“ zu buhlen – so gern man dieses oder jenes Leiden in einer Schublade einsortiert hätte.