Bundestagspräsident Norbert Lammert hat im Deutschen Literaturarchiv die Schillerrede gehalten. Er hat sich dabei als belesener Theaterliebhaber gezeigt, der mit literarischen Verweisen die Politikverdrossenheit anprangert.

Marbach - Als Ulrich Raulff das Podium betritt, wird es augenblicklich still. 450 Münder schweigen im großen Saal des Deutschen Literaturarchivs. Das Bildungsbürgertum in Marbach weiß, was sich gehört. Die Schillerrede steht an, Bundestagspräsident Norbert Lammert wird sie halten: „Macht und Ohnmacht – alles nur Theater?“ ist das Thema. Vor der Rede kommt die Einführung des Direktors. Doch Ulrich Raulff schaut kurz unters Rednerpult, findet nicht, was er sucht, schaut in einem anderen Schränkchen, ohne Erfolg, läuft aus dem Saal. Die Spannung steigt. Alles nur Theater? Die Referentin eilt herbei, sie findet das Manuskript im Rednerpult. Und zwischendurch stapft mit einem Weinglas in der Hand und einem Gehstock unterm Arm noch leicht verspätet der Schriftsteller Christian Kracht in den Saal. Er ist zur Eröffnung der Ausstellung „Das bewegte Buch“ angereist, die wenige Stunden vorher stattfand, und zu der Kracht seine Kathamandu-Bibliothek beigesteuert hat. Es ist viel los in diesen Novembertagen in der kleinen Stadt am Neckar.

 

Die Schillerrede ist eine Marbacher Institution. Alljährlich, wenn der Geburtstag des größten Sohns der Stadt im November ansteht, spricht ein großer Geist im Deutschen Literaturarchiv bei freiem Eintritt über ein selbst gewähltes Thema. Seit 1999 ist das so. Richard von Weizäcker war schon hier, Orhan Pamuk,, Jutta Limbach. In diesem Jahr also Norbert Lammert. Seit 2005 steht der CDU-Abgeordnete aus Bochum dem deutschen Parlament vor. Er ist bekannt als unerschrockener Staatsdiener, der selbst Angela Merkel zur Ordnung ruft, wenn sie während einer Debatte zu laut mit ihrem Nachbarn redet. Norbert Lammert gilt aber auch als kunstsinniger Politiker. Auf seiner Homepage sind Romane und Sachbücher gelistet, die er gelesen hat – jeweils mit einer persönlichen Kritik. Eine Idealbesetzung für Marbach also, so preist ihn Ullrich Raulff an mit dem wiedergefundenem Manuskript. „So geht es denen, die nicht sorgsam mit Papier umgehen“, streift er noch kurz und elegant sein Missgeschick. Und hebt dann an zu seiner einführenden Lobrede auf Lammert, preist ihn als einen, der seine vernehmbare Stimme gegen die Arroganz der Macht erhebt, der die Rechte des Parlaments verteidigt und sich unermüdlich für die parlamentarische Demokratie einsetzt.

Lammert hält eine feinsinnige Rede

Das tut der Bundestagspräsident auch bei seiner Schillerrede. Und wie. Feinsinnig, bedächtig im Tempo, literaturkundig und sprachlich ebenso gewandt wie der Gastgeber bei der Einführung. Lammert macht das Rednerpult zur akustischen Bühne – er versteht es, mit beredten Pausen Akzente zu setzen oder Lacher zu provozieren. Etwa, als er von der Einladung spricht, die ihm bei freier Wahl des Themas dann doch drei Vorschläge mitgeliefert habe, die er jedoch verworfen hat.

Politik und Theater, darüber redet er eine knappe dreiviertel Stunde lang und beruft sich dabei auf Claus Peymann: Die Politik suche den Kompromiss, also würde nur Boulevard gespielt. Die Kunst aber suche das Extrem, so der Theatermann in einem Interview. Also holt Lammert weit aus in der Literaturgeschichte und landet bei Sophokles: Könnte man Ödipus, das Drama um den schuldlos Schuldig gewordenen, der Verantwortung übernimmt, nicht auch als zeitgenössischen Kommentar auf die politische Lage nach Perikles verstehen? Die Ohnmacht der Mächtigen, das sei das Thema, genauso wie bei Schillers Wallenstein. Überhaupt: im Theater seien die Mächtigen besser zu ertragen als in der Realität – denn auf der Bühne würde immer nur ihr Scheitern verhandelt. Eine These, die insbesondere bei den Königsdramen Shakespeares deutlich werde. Lammerts Tipp: „Lesen Sie Urs Widmer, der die Shakespeares Dramen nacherzählt.“ Sympathisch sei Macht immer erst dann, wenn sie verloren gehe.

Und wie hält es die Gegenwart mit den Mächtigen? Heute drängt der Bürger selbst zur Macht, so Lannerts Befund. Besonders wenn es um eigene Interessen geht. Er Bundestagspräsident spart sich Anspielungen, spricht nicht von Wutbürgern. Nur soviel: Dass Politiker immer nur gemeinnützig handeln sollten, die engagierten Bürger aber nur sich selbst im Blick hätten, das sei doch ein interessanter Plot, sagt er. Bedenklich stimmt ihn das Misstrauen gegenüber den Repräsentanten der Macht: 9 von 10 Befragten hielten zwar die Demokratie für die bestmögliche Staatsform. Aber weniger als zwei glauben, dass das Volk etwas zu sagen hat.

Vertrauensverlust allerorten, nicht einmal mehr der ADAC gelte als vertrauenswürdig, genauso wenig wie Politiker, Unternehmer, Banker, Medien. „Und das ist keine vorübergehende Schlechtwetterfront, sondern ein schleichender Klimawandel“, so Lammert. Er hält ihn für bedenklich und warnt: Auch Demokratien können ausbluten, wenn sich niemand für sie engagiert. Als letzten Kronzeugen zitiert er in seiner Rede Vaclac Havel, den Dichter und Staatsmann: „Im Kampf gegen die Diktatur wussten wir, was wir wollten. Jetzt haben wir die Freiheit und wissen nicht mehr so genau was wir wollen.“

Beim Publikum ist die feinsinnige, sich zwischen Gegensatzpaaren abarbeitende Rede gut angekommen, der Applaus ist lang. „Die Vögel zwitschern von den Dächern, dass Sie ein hervorragender Redner sind. Jetzt gehören wir auch zu diesen Vögeln“, sagt Raulff zum Abschied.