Bei Ferdinand von Schirachs Stück „Terror“ im Alten Schauspielhaus in Stuttgart sitzen die Zuschauer mit zu Gericht. In der Pause dürfen sie abstimmen, wie ihr Urteil ausgefallen wäre in einem fiktiven Fall.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Am Ende bleibt ein gewisses Unbehagen zurück, einerlei, wie man gestimmt hat. Darf man einen Mann freisprechen, der 164 Menschen getötet hat? Der eigenmächtig ein Flugzeug abgeschossen hat, das ein Terrorist gekapert hatte? Andererseits: soll dieser arme Familienvater bis ans Lebensende hinter Gittern sitzen, nur weil er 70 000 Menschen retten wollte? Schließlich flog der Terrorist mit dem Flugzeug direkt auf die voll besetzte Allianz-Arena in München zu.

 

Am Ende der Premiere von „Terror“ im Alten Schauspielhaus sind sich 228 Zuschauer einig, dass der Major der Luftwaffe sich für das kleinere Übel entschieden hat, um größeres Übel zu verhindern. Sie plädieren für Freispruch, während 137 Zuschauer ihn ins Gefängnis geschickt hätten, weil er gegen das Gesetz verstoßen hat und „Leben niemals mit Leben abgegolten werden darf“, wie die Staatsanwältin erklärt. Wie auch immer man sich entscheiden mag, nach zwei aufregenden Theaterstunden bestätigt sich doch nur, was die Staatsanwältin eloquent ausführt: „Es gibt keine Sicherheit in moralischen Fragen.“

Grund genug, sich genau deshalb mit ihnen zu befassen. Ferdinand von Schirach war selbst Strafverteidiger und schreibt seit 2009 Bücher, die sich bestens verkaufen und verfilmt im Fernsehen hohe Einschaltquoten garantieren. „Terror“ ist sein erstes Theaterstück, das ebenfalls extrem erfolgreich ist, weil es nicht nur spannende Wortgefechte zwischen Staatsanwältin und Verteidiger bietet. „Terror“ verhandelt eine moralische Fragestellung, die sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft betrifft: Darf man töten, um Leben zu retten? Was ist von einem Gesetz zu halten, das verbietet, Menschen umzubringen, um andere zu retten? Statt das Publikum zu belehren, zwingt von Schirach es, selbst sämtliche Argumente abzuwägen, Stellung zu beziehen – und in der Pause eine Stimmkarte abzugeben: schuldig oder nicht schuldig.

Die Staatsanwältin hat eine Thermoskanne dabei

Selten erlebt man im Theater so engagierte Diskussionen in der Pause wie bei dieser Premiere. Auch wenn der Fall konstruiert sein mag, ist er hochbrisant durch 9/11. Ralf Stech spielt im Alten Schauspielhaus den Täter, diesen Flieger eines Kampfjets, der intelligent, korrekt, differenziert ist. Auf der Bühne (Ausstattung Manfred Schneider) beginnt die Hauptverhandlung gegen ihn, weil er den Airbus abgeschossen hat – gegen die Anweisung seines Vorgesetzten und auch gegen das Diktum der Verteidigungsministerin. „Aber warum wurde das Stadion nicht geräumt?“, will die Staatsanwältin von einem Zeugen (Harald Pilar von Pilchau) wissen – und man ahnt ihre Unterstellung, dass es in den Reihen der Bundeswehr auch Soldaten geben könnte, die bereitwillig das tun würden, was sie doch jahrelang geprobt haben: Terroristen das Handwerk zu legen, auch wenn es dabei Opfer gibt.

Der Regisseur Harald Demmer hat in seine Inszenierung amüsante Details eingebaut, die Staatsanwältin hat eine Thermoskanne dabei, der Verteidiger zieht unauffällig die Schuhe aus. Während Andreas Klaue als Richter durch den Abend führt und die Schöffen, also das Publikum, auch direkt anspricht, haben die übrigen Schauspieler nur wenige, dafür große, leidenschaftliche Monologe, die sie allesamt souverän meistern. Scharf erläutert Alexandra Marisa Wilcke als Staatsanwältin die Rechtslage, erinnert an die Verfassung, will aber auch wissen, ob der Angeklagte die Maschine ebenfalls abgeschossen hätte, wenn seine Familie darin gesessen hätte. Frank Voß als Verteidiger fragt dagegen, ob „wegen eines Prinzips“ 70 000 Menschen hätten getötet werden sollen. „Die Welt ist kein Seminar für Rechtsstudenten“, sagt er, deshalb sei es richtig gewesen, das kleinere Übel zu wählen.

Interessantes und relevantes Theater

Viele schier unlösbare Konflikte werden in dieser Verhandlung auf dem Theater angesprochen. Wenn das Gesetz verbietet, eine von Terroristen gekaperte Maschine abzuschießen – ist das dann nicht letztlich ein Freibrief für Selbstmordattentäter? „Es ist nicht meine Aufgabe, Befehle zu hinterfragen“, sagt ein Soldat im Zeugenstand – aber was ist richtig, der Obrigkeit zu folgen oder eigenverantwortlich zu handeln gegen das Gesetz? Bei den diversen Inszenierungen von „Terror“ stimmt das Publikum keineswegs immer gleich ab, meist gibt es auch nur knappe Entscheidungen für oder gegen einen Einspruch.

Denn „Terror“ kreist nicht selbstreferenziell um ästhetische Fragen und dramaturgische Konzepte, sondern ermuntert, sich differenziert auseinanderzusetzen und die Winkelzüge und Fallgruben moralischer und juristischer Fragen auszuloten. Mag diese Inszenierung im Alten Schauspielhaus traditionell anmuten, so ist es nicht nur interessantes, sondern endlich auch mal relevantes Theater.