Schließung der Herrenberger Notfallpraxis Politik und Klinik setzen Notruf ab

Dunkle Wolken über dem Herrenberger Krankenhaus: Der Klinik droht der nächste Rückschlag Foto: /Stefanie Schlecht

Die geplante Schließung der Notfallpraxis am Herrenberger Krankenhaus treibt Landräte und Oberbürgermeister sowie den Klinikverbund auf die Barrikaden. Sie fürchten eine Verschärfung der bestehenden Probleme. Doch die Ärzte sehen sich nicht imstande, die Praxis zu erhalten.

Böblingen: Jan-Philipp Schlecht (jps)

Im Streit um die geplante Schließung der Notfallpraxis der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) am Herrenberger Krankenhaus verschärft sich der Ton. Politik und die Verantwortlichen im Klinikverbund Südwest (KVSW) laufen Sturm gegen die Pläne der Kassenärzte, doch diese sehen sich nicht imstande, die Notfallpraxis aufrecht zu erhalten.

 

Wie ist die Ausgangslage? Die Kassenärztliche Vereinigung betreibt landesweit 115 sogenannte Notfallpraxen, die meisten davon in Krankenhäusern. Diese sind gedacht als Überbrückung für dringende medizinische Fälle in den Randzeiten abends und an Sonn- und Feiertagen. Organisiert werden die Notfallpraxen vom Ärztlichen Bereitschaftsdienst der niedergelassenen Ärzte. Akute Notfälle gehören nicht dorthin, hierfür sind die Rettungsdienste sowie Notaufnahmen der Kliniken zuständig.

Was planen die Kassenärzte? Die KV sieht in den Notfallpraxen eine akute Überlastung, da ein gravierender Mangel an Ärzten herrscht. „Uns fehlen heute bereits knapp 1000 Hausärzte im Land, weiter steht uns eine Ruhestandswelle bevor. Daher müssen wir rechtzeitig die Weichen stellen und Ressourcen bündeln“, sagt Pressesprecher Kai Sonntag. Man könne die Zahl der Praxis-Standorte daher nicht aufrecht erhalten. Ein wachsendes Problem seien dort außerdem Bagatellen, bei denen die Patienten sich den Weg zum Haus- oder Facharzt werktags sparen wollen. Derzeit gibt es in den Kreisen Böblingen und Calw fünf Notfallpraxen, die jeweils direkt in die Kliniken in Sindelfingen-Böblingen, Calw, Nagold, Herrenberg und Leonberg integriert sind. Herrenberg, Calw und Nagold stehen auf der Streichliste.

Die Arbeiten am neuen Flugfeldklinikum schreiten voran (Aufnahme vom März 2024) Foto: Archiv/Stefanie Schlecht

Wie viele Patienten sind betroffen? Die Notfallpraxis in Herrenberg verzeichnete im vergangenen Jahr 6 551 Fälle, in Sindelfingen 12 434, in Leonberg 10 398, und der kinderärztliche Notdienst in Böblingen behandelte 17 516 Patienten, teilt der Landkreis mit. Sollte Herrenberg nach dem 1. April 2025 tatsächlich geschlossen werden, ist zu erwarten, dass die Patienten sich entweder auf die verbleibenden, ohnehin schon überlasteten Notfallpraxen verteilen – oder die Notaufnahme aufsuchen, die dafür nicht gedacht ist. In den Notaufnahmen wurden im vergangenen rund 160 000 Fälle behandelt, 100 000 davon ambulant.

Wie reagiert die Politik? Alle Ebenen der Kommunalpolitik gehen gegen die Pläne der KV auf die Barrikaden. Der Böblinger Landrat Roland Bernhard sieht in dem neuen Standortkonzept „eine gravierende Verschlechterung der Gesundheitsversorgung.“ Ende vergangener Woche hatten sich zahlreiche Landräte in einem gemeinsamen Schreiben an Sozialminister Lucha gegen die geplanten Schließungen positioniert. Es brauche „schnell wirksame politische Leitplanken zur Orientierung“. Kurz gesagt zweifelt Bernhard so wie viele seiner Amtskollegen an, dass die Kassenärzte ihrem gesetzlichen Sicherstellungsauftrag angesichts der geplanten Neuordnung noch gerecht werden können. Herrenbergs Oberbürgermeister Nico Reith sagt: „Leidtragende sind am Ende die Bürgerinnen und Bürger, die weitere Fahrtstrecken zurücklegen müssen.“ Er fordert eine flächigere Versorgung mit Notfallpraxen und kritisiert scharf, „dass eine Entscheidung solcher Tragweite hinter verschlossenen Türen getroffen wird.“

Was sagt der Klinikverbund? Die bereits erfolgte Reduzierung der Öffnungszeiten der KV-Praxen habe in 2024 schon zu einem deutlich erhöhten Patientenaufkommen in den Notaufnahmen geführt und werde durch die Schließungen noch weiter zunehmen, sagt Klinikverbund-Sprecher Lukas Schult. „Als Folge muss in den Notaufnahmen noch stärker priorisiert werden, was zu längeren Wartezeiten und zunehmendem Unmut bei den Patienten führt.“ Ein Problem seien außerdem die Kosten. Behandlungen in der Notaufnahme seien für die Kliniken ein Verlustgeschäft: Je Patient lege man 88 Euro drauf – mache im Jahr rund 10 Millionen Euro minus.

Was sagen niedergelassene Ärzte? In die Diskussion schaltet sich der Altdorfer Allgemeinmediziner Hans-Peter Schweizer ein und sagt: „18 Bürgermeister aus dem Einzugsgebiet sind empört und fordern, dass die Notfallpraxis weiter betrieben wird. Von wem fordert der Amtsschimmel dies ein?“, sagt Schweizer und weist mit klaren Worten darauf hin, dass die niedergelassenen Ärzte die Bereitschaft neben ihrer ohnehin belastenden Praxistätigkeit leisten müssen. Schweizer: „Ist es zumutbar dass man bis 18 Uhr in der Praxis seine Patienten versorgt, um dann von 18 bis 8 Uhr am nächsten Morgen einen Fahrdienst macht und danach um 8 Uhr wieder seinen Patienten in der Praxis gerecht wird?“ Ein Problem sei außerdem die Bezahlung, „für die ein selbstständiger Elektromeister nicht mal den Hörer in dir Hand nimmt“, so Schweizer.

Medizinkonzept im Klinikverbund Südwest

Schließungen
 Die jetzige Diskussion um die Notfallpraxen kommt für den Klinikverbund zur Unzeit: Er muss aus Kostengründen ohnehin seine Struktur verschlanken.

Geburtshilfe
 Insbesondere davon betroffen sind ländliche Krankenhäuser wie Herrenberg und Calw. Für sie wurde eine Herabstufung auf den Weg gebracht, die etwa vorsieht, die jeweiligen Kreißsäle zu schließen und weitere Stationen ins neue Klinikum auf dem Flugfeld zu verlegen.

Flugfeldklinikum
 Das neue Krankenhaus soll 2027 in Betrieb gehen und die beiden Kliniken in Böblingen und Sindelfingen ersetzen. Das Flugfeldklinikum soll zum Maximalversorger ausgebaut werden.

Defizit
 Den Klinikverbund plagt aufgrund dieser derzeit noch dezentralen Struktur derzeit ein jährliches Defizit von 38 Millionen Euro, dass den Kreis-Haushalt belastet.

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