Die Polizei fährt einen harten Kurs bei der Räumung des Schlossgartens, wo Demonstranten das Fällen der alten Parkbäume verhindern wollen.

Stuttgart - Vor dem Lastwagen der Polizei türmt sich eine bunte Wand auf. Dutzende von Demonstranten sitzen wenige Meter vom großen Biergarten im Schlossgarten entfernt auf einem der asphaltierten Wege. Manche von ihnen haben sich untergehakt, andere stehen neben ihnen und brüllen den Polizisten ihre Wut ins Gesicht, in die sich Angst mischt, vor dem, was noch kommen könnte. "Schämt euch, schämt euch!" skandieren einige. "Keine Gewalt!" rufen andere beschwörend aus den hinteren Reihen. Doch dieser Wunsch wird sich nur teilweise erfüllen.

Es ist der Tag X. Jener Tag, an dem der Stuttgarter Polizeipräsident Siegfried Stumpf am frühen Nachmittag ankündigt, was zuvor bereits durchgesickert ist: Die ersten Bäume im Mittleren Schlossgarten sollen noch in der Nacht zum Freitag gefällt werden. Hundertschaften der Polizei sind aus mehreren Bundesländern zuvor zusammengezogen und nach Stuttgart gebracht worden. Doch auch die Gegenseite hat sich vorbereitet. Die Parkschützer haben schon am Vortag von dem bevorstehenden Großeinsatz der Polizei erfahren.

Begleitet von einem ohrenbetäubenden Pfeifkonzert rücken die ersten Polizisten in den späten Vormittagsstunden in den Park ein. Tausende von Stuttgart-21-Gegnern erwarten sie. Von Lastwagen schleppen die Beamten Absperrgitter herunter und bauen diese auf der Seite des Parks auf, die an den Bonatz-Bau angrenzt. Fast zeitgleich strömen Hunderte von Jungen und Mädchen in den Schlossgarten, die sich an einem Schülerprotest gegen das Projekt in der Lautenschlagerstraße beteiligt hatten.

Ein besonders bitterer Tag


Die Polizisten bauen die ersten Zäune auf, immer wieder kommt es zu Rangeleien, vor allem mit jüngeren Demonstranten. Vuvuzelas dröhnen, Ratschen knattern, ein Schlachtruf klingt den Polizisten in den Ohren: "Wir sind viele, wir sind stark, Hände weg von unsrem Park!" Schon nach wenigen Minuten läuft etlichen Polizisten der Schweiß über die Gesichter. Auffallend jung sind viele von ihnen, manche nur wenige Jahre älter als ein Großteil der Schüler, die in den Park gekommen sind.

Die Polizei soll den Schlossgarten räumen, doch schon nach wenigen Stunden der Auseinandersetzung wird klar, wie schwer diese Aufgabe ist. In den Anlagen spielen sich Jagdszenen ab: Einige Demonstranten klettern auf Bäume, andere beginnen mit spontanen Sitzblockaden vor Polizei- und Baufahrzeugen – immer wieder rennen Dutzende von Polizisten von einem Brennpunkt zum nächsten. Die Masse der Demonstranten erschwert ihnen ihre Aufgabe immens. Und während sich an einem Ort die Lage beruhigt, kochen die Emotionen wenige Meter entfernt wieder hoch.

In der Menge beobachten zahlreiche prominente Gegner des Großprojekts die Proteste. Der Kabarettist Peter Grohmann verteilt Anti-Stuttgart-21-Schilder, der SPD-Altvordere Peter Conradi ist da und auch der Stuttgarter Fraktionsvorsitzende der Grünen, Werner Wölfle. Er formuliert in ruhigem Tonfall harsche Worte der Empörung: "Rambo zeigt sein Gesicht", sagt er und spielt damit auf den Ministerpräsidenten Stefan Mappus an. "So ein Einsatz ausgerechnet am Tag einer Schülerdemo ist unverantwortlich." Für all diejenigen, die noch an einen Dialog zwischen Gegnern und Befürwortern geglaubt hätten, sei dies ein besonders bitterer Tag.

"Wir verteidigen hier unsere Demokratie"


Nur wenige Meter von ihm entfernt schieben Polizisten Absperrgitter an einer Böschung hinab. Immer mehr Demonstranten stemmen sich ihnen entgegen. Schultern prallen aufeinander, Ellenbogen werden auf beiden Seiten ausgefahren. Die meisten Polizisten tragen Spezialkleidung, die ihre Arme, Knie und Schienbeine schützt. Einzelne Demonstranten stürzen zu Boden. Ein älterer Herr ruft: "Wir verteidigen hier unsere Demokratie." "Und wir den Beschluss einer Mehrheit", murmelt ein Polizist kaum hörbar.

Trommler mit K-21-Buttons ziehen in den frühen Nachmittagsstunden von einem Schauplatz der Auseinandersetzung zum nächsten – die Trommeln funktionieren wie Rauchzeichen: Die Menge erkennt an ihrem dumpfen Schlagen stets, wo sich die Lage zuspitzt. In diesem teilweise chaotischen Verwirrspiel verlieren die Beamten immer wieder den Überblick. Plötzlich klettern Dutzende von Jugendlichen auf die beiden Lastwagen der Polizei mit den Absperrgittern. Die Polizei warnt in scheppernden Durchsagen davor, dass sie ihre Wasserwerfer einsetzen wird, falls die Fahrzeuge nicht umgehend geräumt werden.

Die Demonstranten bleiben sitzen, sie wippen auf dem Lastwagen, es sind fast nur Jungen und Mädchen. Es ist ein unwirkliches Bild. Knapp eine halbe Stunde vergeht, bevor die Polizei reagiert. Dann spielen sich im Schlosspark Szenen ab, die der Auseinandersetzung um Stuttgart 21 eine völlig neue Qualität geben. Die Kamerateams, die den Trommlern im Park folgen, filmen zunächst, wie Spezialkräfte der Polizei die Kinder von den Lastwagen herunterziehen. Aber die Fahrzeuge kommen immer noch nicht voran.

Schüler und Studenten geraten mit der Polizei aneinander


Zum ersten Mal setzt die Polizei Pfefferspray ein, wenig später einen Wasserwerfer. Es werden einzelne Demonstranten aus der heißen Zone von anderen Protestierenden hinausgeschleppt: Ihre Augen haben sie zusammengekniffen, sie lassen sie sich von Parkschützern mit Wasser ausspülen, weil nirgendwo Sanitäter zu sehen sind. Einige Jugendliche rollen Kanalrohre, die für das Grundwassermanagement vorgesehen sind, auf die Wege und nutzen sie als Barrikaden. Im Vorfeld und während der Proteste haben die Parkschützer ihre Aktivisten wiederholt gebeten, friedlich vorzugehen. Doch vieles von dem, was an diesem Herbsttag in den sonst so beschaulichen Anlagen passiert, entzieht sich der Planung und Kontrolle.

Kein anderes Thema ist im Streit um den neuen Tiefbahnhof so mit Gefühlen aufgeladen, wie jenes der uralten Parkbäume, die gefällt werden sollen. Die Bäume sind in den vergangenen Monaten mehr noch als der Nordflügel des Bonatz-Baus zu einem Symbol des Streits geworden. Auch deswegen erreicht die Auseinandersetzung eine in Stuttgart bis dato nicht gekannte Schärfe. Die Rangeleien zwischen Polizei und Demonstranten gehen teilweise in Prügeleien über, Beamte setzen Pfefferspray ein, um den Transportern mit den Absperrgittern Meter für Meter einen Weg durch den Park zu bahnen. Immer neue Einsatzhundertschaften werden aufgeboten, die Beamten tragen inzwischen ihre Helme.

Vor allem die Schüler und Studenten, die nach der Demo in den Schlossgarten geeilt sind, geraten mit der Polizei aneinander. Manche weinen vor Schmerzen, andere werfen in ihrer ohnmächtigen Wut mit Kastanien auf die Polizei. Eine junge Frau trägt eine Platzwunde an der Nase davon, ein blutüberströmter Demonstrant wird von Mitstreitern weggeschleppt, Bierbänke werden zu Krankenliegen. "Aufhören, aufhören", skandiert die Menge. Die Antwort der Polizei: "Räumen Sie die Wege im Park, wir werden sonst weiter unmittelbaren Zwang gegen Sie anwenden."

Vergleiche mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig


Auf Höhe des Biergartens im Mittleren Schlossgarten gerät der Wagen mit den Absperrgittern erneut ins Stocken. Diesmal spritzt der Wasserwerfer auch gezielt, ein junger Mann wird von der Wucht des Strahls voll im Gesicht getroffen und fällt vom Biertisch. Ein paar Jugendliche wollen sich mit Sitzblockaden und verbalem Protest nicht mehr zufriedengeben, sie werfen Rauchbomben in Richtung Polizei. Während die Beamten löschen, werden die Randalierer von Parkschützern umringt. "Was macht ihr da, sofort raus aus unserem Park", brüllt ein Demonstrant. Die erzieherische Maßnahme hat Erfolg – die Halbstarken trollen sich fürs Erste.

Derweil rücken die Wasserwerfer und Einsatzkräfte unaufhaltsam weiter vor. "Wir sind das Volk", rufen die Demonstranten, die nur langsam zurückweichen. Manche ziehen Vergleiche mit den Montagsdemonstrationen in Leipzig. Einer, der damals bei der friedlichen Revolution hautnah dabei war, ist der ehemalige Bürgerrechtler und heutige CDU-Bundestagsabgeordnete Thomas Feist. Der Stuttgarter CDU-Kreisverband hat ausgerechnet ihn als Festredner für die Feierstunde zum Tag der Deutschen Einheit am Sonntag engagiert. Die ersten alten Bäume werden da schon abgesägt sein.