Der Notfallsanitäter aus der Region Stuttgart ist im Stress. Er müsse sich kurz fassen, sagt er, an diesem Tag sei mal wieder „die Hölle los“. So wie meistens, wenn er in seine Uniform schlüpft, um Leben zu retten. Bei manchen Einsätzen geht es zwar eher um Lappalien, doch das weiß man vorher halt nie so genau. Außerdem fehlen nach wie vor Kollegen wegen Corona, die Personaldecke ist dünn. Und jetzt, stellt er lapidar fest, sollen er und seine Kollegen auch noch über Nacht schneller werden. „Das nehmen wir zur Kenntnis“, sagt er – und hat auch schon einen Lösungsvorschlag parat: „Vielleicht sollten uns einfach Flügel wachsen.“
Der Grund für solch markige Aussagen findet sich in einem knapp 60 Seiten langen Papier. Sie kommt auf den ersten Blick ganz unscheinbar daher, die Änderung, die in Baden-Württemberg Anfang September in Kraft getreten ist. Seither gilt der neue Rettungsdienstplan des Landes. Doch was formell klingt, hat massive Folgen. „Der neue Rettungsdienstplan wird dazu beitragen, dass sich die rettungsdienstliche Versorgung der Patientinnen und Patienten weiter verbessern wird“, sagt Wilfried Klenk, Staatssekretär im Innenministerium. Und: „Inhaltlich haben sich teilweise erhebliche Änderungen ergeben“, so der CDU-Politiker.
Künftig nur noch zwölf Minuten
Damit ist etwa gemeint, dass die Förderung des Rettungswachenbaus neu aufgestellt worden ist. Hilfsorganisationen können nun mehr Geld dafür bekommen und müssen für diese Aufgabe weniger auf Spenden zurückgreifen. Auch die Grundlagen für die Einführung eines Telenotarzt-Systems sind geschaffen worden. Dazu kommen weitere vorwiegend technische Neuerungen.
Die mit Abstand weitreichendste Änderung betrifft aber einen anderen Bereich: die sogenannte Hilfsfrist. Bisher mussten Retter in 95 Prozent der Fälle binnen 15 Minuten am Einsatzort sein. Künftig sinkt diese Frist für das ersteintreffende Rettungsmittel – also Rettungswagen oder Notarzt – auf nur noch zwölf Minuten.
Drei entscheidende Minuten
Drei Minuten Unterschied klingt wenig. Doch sie können über Leben oder Tod entscheiden. Allerdings verfehlen die meisten der 35 Rettungsdienstbereiche im Land die gesetzlichen Vorgaben schon mit einer 15-Minuten-Frist seit Jahren, und das teils deutlich. Die Einsatzzahlen steigen stetig, zuletzt auf fast 1,35 Millionen im Jahr 2021.
Es werden zwar immer wieder neue Rettungswagen beantragt und von den Krankenkassen auch genehmigt, doch das hilft nur, wenn man dafür Personal findet. Das jedoch ist bundesweit ebenfalls sehr schwierig. Und so stehen schon heute Fahrzeuge still, die eigentlich auf der Straße sein sollten, weil man sie nicht besetzen kann. Zudem verschwinden immer mehr Kliniken, gerade auf dem Land werden die Wege dadurch länger. Wertvolle Zeit geht verloren.
Und nun also zwölf Minuten. Sowohl beim Land als auch bei den Hilfsorganisationen will man offiziell nicht über Zahlen spekulieren, was das in der Praxis bedeuten könnte. Wobei es mehr als unwahrscheinlich scheint, dass es dazu noch keine Berechnungen gegeben hat. In Rettungskreisen hält sich jedenfalls hartnäckig ein Wert: 100 bis 150 zusätzliche Rettungswagen, die nötig sind. Das wäre eine gewaltige Hausnummer – und bedeutet, dass die Hilfsfrist in den nächsten Jahren in allen 35 Bereichen völlig unerfüllbar sein wird.
Auch die Grundstückssuche ist schwierig
„Die neue Vorgabe gilt seit 1. September ohne Übergangsfrist. Sie ist herausfordernd, und es stellt sich die spannende Frage, wie schnell man so etwas umsetzen kann“, sagt Marcus Schauer. Der Rettungsdienstleiter beim Landesverband Baden-Württemberg des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) weiß, dass es nicht nur um Fahrzeuge geht: „Es werden auch neue Standorte dazukommen müssen.“ Die Grundstückssuche sei allerdings jetzt schon schwierig, ebenso die Personalsituation.
Das sieht auch DRK-Landesgeschäftsführer Marc Groß so, der die Vorgabe eher für ein „Versprechen für die Zukunft“ hält. „Wir brauchen mehr Autos und mehr Menschen. Auch Politik und Kostenträger werden ihren Teil beitragen müssen.“ Nicht nur bei der Finanzierung, sondern auch bei der Suche nach Grundstücken. „Wir müssen das gemeinschaftlich konsequent angehen und an sämtlichen Stellschrauben drehen. Das wird harte Arbeit“, so Groß.
Weil all das schwierig scheint, soll ein landesweites Strukturgutachten für den bodengebundenen Rettungsdienst neue Erkenntnisse liefern. Daran beteiligt sind die gesetzlichen Krankenkassen und die Leistungsträger, namentlich Arbeiter-Samariter-Bund, DRK, Johanniter-Unfall-Hilfe und Malteser-Hilfsdienst. „Es ist zu erwarten, dass durch dieses Gutachten auch rettungsdienstbereichsübergreifende Synergien ermittelt werden. Die Ergebnisse werden ausschlaggebend dafür sein, wie sich die Zahl der Rettungsmittel entwickelt“, sagt ein Ministeriumssprecher. Es könnte sich also einiges grundlegend verändern in der Rettungslandschaft Baden-Württembergs. Beim DRK geht man davon aus, dass Ergebnisse bis Ende nächsten Jahres vorliegen könnten.
Doch der historische Umbruch in der Notfallrettung des Landes geht noch weiter. „Im Herbst stehen weitere wichtige Entscheidungen an“, heißt es im Innenministerium. Dann sollen die künftigen Standorte „der neuen Luftrettungsstruktur festgelegt und dabei in diesem Zusammenhang auch die Zahl der Rettungshubschrauber erhöht“ werden.
Umstrittene Luftrettungsreform
Diese Reform ist in diversen Regionen hochumstritten. Ein Gutachten des Landes hatte bereits vor zwei Jahren vorgeschlagen, zusätzliche Standorte für Hubschrauber auszuweisen und andere zu verlegen. Dagegen rührt sich insbesondere in Regionen, die ihren Standort verlieren sollen, heftiger Widerstand, etwa in Leonberg (Landkreis Böblingen). In anderen Orten ist dagegen Streit darüber ausgebrochen, ob eine Neuansiedlung eines Helikopters sinnvoll sein könnte oder nicht.
Zuletzt soll gemeinsam mit den Beteiligten auch noch über die Zukunft einer neuen Leitstellenstruktur entschieden werden, heißt es im Ministerium. Untersuchungen dazu laufen bereits seit Jahren. Viel Arbeit für die Retter also und weiteres Konfliktpotenzial – auch abseits der Einsätze.
Der Notfallsanitäter aus der Stuttgarter Region muss derweil wieder ausrücken. Ein Verkehrsunfall wartet auf ihn und seine Kollegin. Sie werden wie jeden Tag ihr Bestes geben, um schnellstmöglich den Patienten zu helfen. Auch wenn das aller Voraussicht nach weiter ohne Flügel passieren muss.