Sie singen über Oralsex, Liebe und gebrochene Herzen: Das Hamburger Indie-Duo Schnipo Schranke hat am Dienstag im Merlin in Stuttgart gespielt - und uns vor dem Gig erzählt, dass die "Feuchtgebiete"-Vergleiche sie nicht mal am meisten stören.

Stuttgart - Der rote Lippenstift ist verschmiert, unter dem Hochzeitskleid blinzeln nackte Füße hervor und das Gesicht gleicht einer Trauerweide. So kann man das Auftreten von Schnipo Schranke beschreiben. Zwei Frauen auf einer Bühne, in dem Fall im Merlin in Stuttgart. Die eine spielt Blockflöte, die andere sitzt am Keyboard, ein Dritter ergänzt am Synthesizer das Duo. Dann ein Wechsel: Einer am Schlagzeug, eine dreht sich mit dem Mikrofon im Kreis, während die Nächste die Tasten bedient. Dazu singen sie: "Der Abend ist mir nicht gelungen, so sagen böse Zungen. Doch mir hat's gefallen, ich bin immer noch am Lallen."

 

Mit 200 Zuschauern ist das Merlin beim Gig von Schnipo Schranke ausverkauft. Für 75 Minuten folgt das Publikum gebannt dem Bühnengebaren der deutschen Band und saugt Wort für Wort, Ton für Ton auf. Die Stimmung ist angenehm - gelassen, mal fröhlich, mal ruhig. Einzig ein paar Jugendliche rufen immer wieder "Penis" in den Raum und fallen anschließend in großes Gelächter. Vielleicht weil Daniela Reis und Friederike Ernst ein goldenes Emblem mit dem Wort „Pisse“ schmückt. Vielleicht weil die beiden Wörter wie Penis, Pisse oder Arschbacken in ihren Liedtexten verwenden. Vielleicht finden es die Jugendlichen auch schlicht witzig.

Dabei geht es Schnipo Schranke gar nicht um das Witzigsein. Oder um das schlichte Aneinanderreihen verschiedener Schimpfwörter. Oder um das Adaptieren von dem Vokabular aus Charlotte Roches Debütroman „Feuchtgebiete“, der oft genannt wird, wenn man über die Band spricht.

Sido oder so

„Ich finde den Vergleich gar nicht schlimm, weil ich Charlotte Roche toll finde“, sagt Daniela Reis, Ende 20, im Interview. Es nerve sie eher, dass niemand männliche Autoren zum Vergleich heranziehe. Denn es gebe davon viel mehr, die sich mit Fäkalkunst beschäftigen und mit denen sie sich auch während der ersten Albumphase beschäftigt hätten. „Zum Beispiel Heinz Strunk“, sagt Reis. „Oder die ganzen Hip-Hop-Sachen“, ergänzt ihre Co-Musikerin Ernst, „Sido oder so. Da gibt es eine Stange voller Künstler. Das ist etwas, was uns vielleicht unbewusst wirklich beeinflusst hat.“

Was Ernst und Reis, abseits der vulgären Sprache, bedeutend finden, sind die Geschichten zwischen den Zeilen. Reis hätte bei Roche beispielsweise den Versuch der Protagonistin, seine Eltern wieder zusammenzubringen, beeindruckt. Der sprachliche Ausdruck sei ihr dabei erst später aufgefallen - genauso gehe es den beiden bei ihren eigenen Texten. Sie benennen die Dinge so, wie sie sind: frei heraus, auf den Punkt. Weswegen Schnipo Schranke sich auch im vergangenen Jahr einen Namen in der Musikszene machten. Denn oft gibt es so eine Konstellation nicht. Zumindest als deutsches Frauenduo im Indierock. „Es ist auch nicht so, dass wir nach Schimpfwörtern suchen“, sagt Ernst, „wir reimen gerne Worte, die andere nicht benutzen - was nicht Pisse ist! Sondern viel mehr so etwas wie „Morgenrock“ oder „Murmelbahn“.

Die große Liebe

Ernst und Reis lernten sich an der Frankfurter Musikhochschule kennen. Verabschiedeten sich irgendwann von der Klassikwelt und gründeten ihre eigene Band. Nun leben sie in Hamburg, schreiben eigene Melodien und Texte. Dichten, was sie „abfucked“. Daniela Reis fucked eine ganze Liste an Dingen ab - angefangen damit, dass man Backstage nicht rauchen darf.

„Früher hatten wir erst den Text, dann kam die Melodie“, sagt Ernst zum Entstehungsprozess, „nun ist es mittlerweile andersrum“, sagt Reis. Zum 2015 erschienenen Debüt „Satt“ bemerken Kritiker, dass es um Liebe gehe. Im leicht, fröhlichen und dem wohl bekanntesten Song „Pisse“ beispielsweise über das Schlussmachen, im Flöte und Synthesizer dominanten Stück „Herzinfarkt“, über das Verliebtsein.

Im Merlin packt Reis zum letzt genannten Lied ein Geständnis aus: „Da drüben steht mein Mann. Er ist meine große Liebe.“ So wäre auch das Rätsel um die dritte Person auf der Bühne geklärt, die Reis im Interview auch „Ente“ nennt. „Er spielt besser Schlagzeug als wir und ist gut am Synthesizer - wir brauchen ihn“, sagt sie.

Schnipo Schranke - Pisse (OFFIZIELLES MUSIKVIDEO) from Daniela Reis on Vimeo.

Depression als nächstes Thema

Den Sprung von Platte zu Bühne gelingt Schnipo Schranke während ihres Konzerts gut - was gar nicht so einfach ist. Zwar mögen ihre Texte durch das schlichte Vokabular einfach wirken, doch sind sie sehr divers aufgebaut: mal mit Refrain, mal ohne, mal nur Gesprochenes, dann zweistimmig in wechselnden Stimmlagen. Ihr minimalistischer Sound zieht sich dabei durch die Liedpassagen. Ein ständiger Up-Beat am Klavier, das Schlagzeug ohne Toms. Ja, und manchmal bringen Passagen wie „Ich hab’ heut’ Nacht ins Bett gemacht, mein Psychiater hat sich letzte Woche umgebracht“, die Zwei im traurigen Brautkostüm zum Lachen.

"Bei der ersten Platten ging es viel um Liebe, aber irgendwann ist man auch durch mit dem Thema. Was soll sich auch innerhalb von einem Jahr ändern“, sagt Reis noch vor Beginn der Show, „im zweiten Album wird es verstärkt um Depressionen gehen. Es geht darum einen Lebenswandel zu meistern, um eine desillusionierte Weltansicht. Es werden aber auch alte Themen aufgegriffen.“

Psychische Krankheiten seien ein Thema, dass noch immer nicht in der Gesellschaft akzeptiert sei. Ernst und Reis wollen dies behandeln, lassen sich dabei aber nicht zu tief in die Karten blicken. Die Hinweise müsse man in den Stücken selbst finden. Noch Anfang nächsten Jahres soll das zweite Werk veröffentlicht werden. Ernst: „Wahrscheinlich schreiben wir uns wieder etwas aus der Seele und am Ende heißt es nur: Pisse.“

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