Das SOS-Kinderdorf Württemberg wird fünfzig Jahre alt: Ein ehemaliger Schützling erzählt vom Leben in dem Kinderheim.

Stuttgart - Sie will nicht, dass ihr Name in der Zeitung steht und sich auch nicht fotografieren lassen. Sie hat ihre Gründe. Wer im SOS-Kinderdorf aufgewachsen ist, wird schnell als "Heimkind" abgestempelt, misstrauisch beäugt oder bemitleidet. "Der Heimstempel ist schon belastend. Du musst dich immer erstmal beweisen", sagt die heute 38-Jährige.

Heute erzählt sie nur Menschen, denen sie vertraut, von ihrer Zeit im SOS-Kinderdorf in Schorndorf-Oberberken (Rems-Murr-Kreis). Und doch hat sie gerne im SOS-Kinderdorf gelebt, in ihrer Kinderdorfmutter eine "Ersatzmutter" gefunden. "Die Chemie hat gestimmt", sagt sie. Daran hat sich nichts geändert: Bis heute trifft sie regelmäßig ihre SOS-Kinderdorfmutter, die inzwischen im Ruhestand ist. Als Kind hat sie diese "Mimi oder in der Wut auch Muddi" genannt. Und ja, sie hat ihr schon mal den Satz "Du bist doch gar nicht meine richtige Mutter" an den Kopf geworfen. "Wir haben uns gefetzt und mit den Türen geschlagen, uns aber immer schnell wieder versöhnt."

Gabriele Lihl ist eine dieser Kinderdorfmütter in Oberberken. Die 58-Jährige hat inzwischen 18 Kinder großgezogen, der älteste ihrer Zöglinge ist mittlerweile 40 Jahre alt. Als Familienhelferin hatte sie immer mal wieder im Kinderdorf mitgearbeitet, wenn Not an der Frau war. Eines Tages ging der Hilferuf eines zweifachen Vaters im Kinderdorf ein. Und Lihl, die zu diesem Zeitpunkt ohnehin schon darüber nachgedacht hatte, ob sie eine Kinderdorfmutter werden möchte, entschied sich und wurde Ersatzmutter für ein dreijähriges Kind und sein fünfjähriges Geschwisterchen. Einen Monat später kam ein dritter Zögling hinzu. "Kinder testen aus, sie suchen Bestätigung und Liebe", sagt die Pädagogin. Als Kinderdorfmutter brauche man "Hingabe, Standvermögen und eine Portion Egoismus: Wenn es einem nicht gut geht, geht es auch den Kindern nicht gut." Ihr ist wichtig, dass ihre SOS-Kinder den Kontakt zu den leiblichen Eltern halten.

"Heute ist es für mich eine kleine heile Welt."


Auch die junge Frau, die als Kind mit zwei Geschwistern noch Oberberken kam, erinnert sich noch genau an ihre Ankunft. "Alle Kinderdorfmütter, Kinder und Zivis standen beim Wasserturm und haben gewunken" - ein Ritual, das bis heute gepflegt wird. Sieben Jahre alt war sie damals. Ihre leibliche Mutter war nach einer schweren Krankheit gestorben, der Vater war mit fünf Kindern überfordert. Die zwei Jüngsten kamen in Pflegefamilien unter, die drei älteren wurden vom damaligen Kinderdorfleiter aus dem Fränkischen nach Oberberken gebracht. Das kleine Mädchen hatte gemischte Gefühle: "Mit sieben Jahren weiß man nur, dass man von zuhause weg muss und findet es schrecklich, aber auch furchtbar spannend."

Das SOS-Kinderdorf am Rande der Ortschaft Oberberken kam ihr riesengroß vor. "Heute ist es für mich eine kleine heile Welt." Als sie eingeschult wurde, machte sie ihre Erfahrungen mit dem Leben außerhalb: "Das war eine andere Welt, die wollte ich kennenlernen." Doch das Dabeisein war nicht einfach. "Es war schwierig, Freundschaften außerhalb des Kinderdorfs zu schließen. Da gab es schon Klassenunterschiede. Aber die SOS-Clique hat zusammengehalten." Was ihr widerstrebt hat, war "die Mitleidstour" - die Mutter einer Klassenkameradin zum Beispiel, die ihrem Kind ein Vesperbrot fürs "arme SOS-Kind" mitgab. "Ich habe mich darüber geärgert. Ich wollte ein ganz normales Kind sein, das war nicht so leicht."

Ehemaliger Schützling arbeitet nun im SOS-Kinderdorf


In der Pubertät machte ihr der Tod der Mutter zu schaffen: "Du fängst an nachzudenken, und alles kommt nochmal hoch. Eigentlich wäre sie gerne Erzieherin geworden, hat aber eine Ausbildung zur Rechtsanwaltsgehilfin gemacht. Die Berufsschule in Stuttgart war ihre Chance, "als ganz normaler Mensch aufzutreten".

Sie hat den Wohnort angegeben, aber den Zusatz SOS-Kinderdorf, den "wunden Punkt", unter den Tisch fallen lassen. "Damit war ein Riesenstein beiseite geräumt. Ich war endlich frei von Vorurteilen." Mit 22 Jahren ist sie ausgezogen, hat ihr eigenes Geld verdient, geheiratet - und ein Gefühl von Sicherheit entwickelt.

Als erwachsene Frau ist sie wieder ins SOS-Kinderdorf nach Oberberken zurückgekehrt. Dort macht sie eine Ausbildung zur Jugend- und Heimerzieherin begonnen, die sie bald abschließt. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich hier nochmal lande", sagt sie. Dass sie hier aufgewachsen ist, mache ihr die Arbeit mit den SOS-Kindern aber oft leichter. Ihren Schützlingen gibt sie eines mit auf den Weg: "Wir Kinderdorfkinder müssen uns nicht verstecken."