Wir wissen nicht, ob es politisch wirklich klug wäre, wenn die Schotten am kommenden Donnerstag ihre Unabhängigkeit beschließen. Die schottische Kultur jedenfalls hat schon jetzt mehr Anerkennung verdient – gerade von den Engländern.

Edinburgh - Aye ist das schottische „yes“: Viele sind überrascht, wie stark laut Umfragen der Wunsch nach Autonomie unter den Schotten ist. Das hat in erster Linie mit den Engländern zu tun. London dominiert die Insel hemmungslos. Die „Hochland-Wilden“ jenseits des Hadrianwalles werden traditionell belächelt, ihre Interessen geringgeschätzt. Dabei kam schon viel Gutes aus Britanniens Norden – wie unsere Kulturschau zeigt.

 

Die Schriftstellerin ist zwar gebürtige Engländerin, aber jeder Harry-Potter-Fan weiß, dass entscheidende Teile ihrer Zauberersaga in Edinburgh entstanden sind: damals, in ihrer Zeit als Alleinerziehende und Sozialhilfeempfängerin – im Tea-Shop The Elephant House an der George-IV-Bridge, in dem man sehr lang ungestört auch nur bei einem einzigen Tee arbeiten kann, an einem Tisch im hinteren Raum mit Blick hinauf gen Edinburgh Castle. Der Holztisch wird inzwischen mit einer Glasplatte geschützt; man kann aber immer noch als Besucher ganz normal daran sitzen und ein wenig andächtig sein. Und noch ein Grund, warum Joanne K. Rowling vielen konservativen Engländern als „typische Schottin“ gilt: seit Jahr und Tag kritisiert sie den radikalen sozial- und bildungspolitischen Abbau durch die Cameron-Regierung. Aktuell allerdings wirbt sie für ein Nein der Schotten zur Unabhängigkeit. Kein Wunder: wenn sie einmal zurückwill in ihre eigentliche Heimat, möchte sie dafür nicht ins Ausland reisen müssen.

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Dieser 1814 erschienene Roman könnte nicht aktueller sein: „Waverley“ von dem 1771 in Edinburgh geborenen Schriftsteller Sir Walter Scott. Das ist insofern bemerkenswert, weil er in der englischsprachigen Literatur gleichzeitig das der Gegenwart abgewandte Genre des historischen Romans begründet. Doch „Waverley“ kreist exakt um jene Konstellation, die sich mit dem anstehenden schottischen Unabhängigkeitsvotum neu ordnen könnte. Der Protagonist ist ein englischer Adliger, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwischen die Fronten des rebellischen schottischen Hochlands und des zivilisierten Südens gerät. Hin- und hergerissen zwischen seiner Loyalität als britischer Offizier und seiner neu entdeckten Liebe zu den Highlands und ihren Bewohnern, entscheidet er sich schließlich für die Seite der Regierung in London, um doch gleichzeitig im Herzen allem Schottischen die Treue zu halten. Exakt diese um Versöhnung der Gegensätze bemühte Haltung war auch die des neben Robert Louis Stevenson bedeutendsten schottischen Schriftstellers Walter Scott. In zahlreichen seiner populären Romane hat er ihr Ausdruck verliehen. Wohin die Konfrontation der Parteien führt, malt er in „The Bride of Lammermoor“ aus, der Vorlage für Donizettis berühmte Oper: Wahn, Tod und Verderben.


Selbst einige schon lang dienende LondonKorrespondenten zeigen sich gerade überrascht, dass viele Schotten zwar unabhängig sein, die englische Königin als Staatsoberhaupt aber behalten wollen. Ja was denn sonst, bitte sehr? Elizabeth II. ist zwar zweifellos englische Königin, sie ist aber ebenso die „Königin der Schotten“ – wenn nicht sogar mehr! Ihre Vorgängerin gleichen Namens, Elizabeth I., ließ zwar 1587 die rivalisierende Königin der Schotten namens Maria Stuart hinrichten, starb aber 1603 kinderlos. Und was geschah? Als rechtmäßiger Thronfolger übernahm Marias Sohn Jakob VI. 1603 als erster schottischer Monarch auch den englischen Thron; in London firmierte er als Jakob I. Hundert Jahre vor den Parlamenten waren so schon die Throne vereinigt – und über elf, zwölf Ecken führte der komplexe Thronfolgeweg zur heutigen Elizabeth. Gekrönt wurde auch sie 1953 auf dem Stone of Scone, dem mittelalterlichen Krönungsstein der Schotten. Der, wenn nicht gerade gekrönt wird, seit 1996 wieder im Schloss von Edinburgh verwahrt ist. Mit anderen Worten: es ist weniger die englische Königin, die auch Schottland regiert, sondern viel eher die Königin der Schotten, die ab und zu auch mal in London nach dem Rechten sieht. In Schottland trägt Elizabeth II. übrigens schon immer ganz offiziell den Titel Elizabeth I. Und das steht beim Referendum auch überhaupt nicht zur Debatte. Die schwarzen Augen, die buschigen Augenbrauen, die Koteletten, das silberne Haupthaar – ganz klar ein Landsmann von Sean Connery! Wer nicht schon wüsste, dass Sir James Frazer Stirling von Geburt ein Schotte war, müsste spätestens durch die Ähnlichkeit mit dem Schauspieler von selbst darauf kommen. (Wenn man vom Bauch des Architekten mal absieht – die barocke Statur war ein Alleinstellungsmerkmal.) Zur Welt kam der Mann, der Stuttgart mit der Staatsgalerie zu einem der international wichtigsten modernen Museumsbauten verhalf, 1926 als Sohn eines Schiffsingenieurs in Glasgow, der größten Stadt Schottlands und der drittgrößten des Vereinigten Königreichs. Doch schon als der kleine Jim ein Jahr alt war, zog Familie Stirling nach Liverpool, die Stadt auf der Insel, die durch vier pilzköpfige Jungs berühmt wurde und bislang keine Abspaltungstendenzen vom Mutterland erkennen lässt. Im Zweiten Weltkrieg diente Stirling im 42. Highland Regiment, das sich durch besonders schöne blau-grüne Schottenkaros auszeichnet. Im Schottenrock hat man den Architekten, den das „Who’s who“ zu den einflussreichsten und innovativsten Baumeistern des 20. Jahrhunderts zählt, freilich nie gesehen. Sein Markenzeichen waren lila Socken.


Ehre, wem Ehre gebührt, weswegen die Aufzählung berühmter schottischer Popmusiker mit den dort geborenen Bon Scott, Angus und Malcolm Young beginnen muss, die mit der australischen Band AC/DC eine Weltkarriere starten sollten. In Schottland selbst groß geworden, um zunächst die Altvorderen aufzuzählen, sind die Bands Nazareth, Big Country, Ultravox, The Jesus and Mary Chain, Primal Scream, Altered Images, die Waterboys, die Bay City Rollers, die Cocteau Twins sowie die Simple Minds. Schotten sind zudem Annie Lennox (das Foto zeigt sie bei der Entgegennahme des Order of the British Empire), Donovan, Mark Knopfler, Sheena Easton und Alex Harvey sowie Ian Anderson von Jethro Tull, der Cream-Bassist Jack Bruce und sein Kollege Guy Berriman von Coldplay, der Sweet-Sänger Brian Connolly, der Marillion-Sänger Fish, Jimmy Somerville (Bronsky Beat, The Communards), der Ur-Beatle Stuart Sutcliffe sowie last but not least David Byrne aus Dumbarton, der ja mit den Talking Heads in New York Karriere machte.

Und vergesst mir natürlich die Jungen nicht! Die Bands Franz Ferdinand, Belle and Sebastian, Snow Patrol und Mogwai stammen ebenso aus Schottland wie Calvin Harris, Amy Macdonald sowie die zwei Musiker Paolo Nutini und Emeli Sandé, bei denen man angesichts ihrer Namen nicht gleich auf einen Landstrich käme, ohne den die Popmusik viel ärmer wäre.

Wer verstehen will, warum viele Schotten mit ihren Nachbarn große Schwierigkeiten haben, sollte bedenken, wie vereinnahmend die Engländer sein können. So gehen bei ihnen schottische Philosophen gerne einmal als englische Denker durch. Das gilt für Adam Smith, der gemeinhin als erster Theoretiker des Kapitalismus gilt, wie für David Hume, einen der bedeutendsten Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Hume repräsentiert zugleich eine ganze Epoche der europäischen Geistesgeschichte: die schottische Aufklärung.

Nach der Vereinigung Schottlands mit England im Jahr 1707 prosperierte das kleine Land im Norden als Teil des britischen Empires. Zunehmender Wohlstand, bessere Schulen und die herausragenden Universitäten machten es im 18. Jahrhundert zu einem intellektuellen Hotspot in Europa. Das galt für Dichter wie Robert Burns wie für Philosophen. David Hume, 1711 geboren, wurde schon während seines Jurastudiums in Edinburgh von diesem Klima angesteckt. 1729 schmiss er deshalb die Juristerei und widmete sich ganz der Philosophie – und zwar den klassischen Fragen der Erkenntnistheorie und Ethik. Anders als den Vertretern des Rationalismus reichte ihm aber das reine Denken nicht. Erkenntnis gewinnt man seiner Ansicht nach durch  Versuche und sensorische Erfahrung. Hume ist somit einer der Väter des Empirismus. Ein schottischer Nationalist war er indes nicht. Von 1754 bis 1762 veröffentlichte er eine „Geschichte Englands“, in der er zu der Erkenntnis gelangte, das England seiner Zeit verfüge über „das umfassendste System an Freiheit, das die Menschheit je gesehen hat“.


Mitte der neunziger Jahre studierte der Autor dieser Zeilen an der Universität von Edinburgh. Das wahre Schottland aber lernte er als Mitglied einer studentischen Vereinigung kennen: der „Water of Life-Society“. Die Mitglieder trafen sich ein- bis zweimal im Monat zu einer Whiskyprobe. Whisky ist die schottische Schreibweise. Denn der „Whiskey“ der Iren und Amerikaner ist hier nicht der Rede wert.

Die erste Lektion: Whisky trinkt man nicht pur, sondern verdünnt ihn mit einem Schuss Quellwasser. „It enriches the Flavour“, es entfaltet den Geschmack, sagte der Kommilitone aus den Highlands dazu. Das richtige Wasser spielt auch bei der Herstellung eine so große Rolle, dass die Brennereien stets an einer Quelle errichtet wurden. Es gibt sehr gute Blended Whiskys, also Verschnitte. Die Schotten verkaufen sie an Touristen und ins Ausland. Selber trinken sie Single Malts – Whiskys aus einer bestimmten Brennerei (noch besser: Single Cask Malts, aus einem einzigen Fass). Das Destillat muss bis zu dreißig Jahre im Eichenfass lagern, um aus dem Holz seinen Geschmack herauszuziehen. In dieser Zeit verdunstet ein Gutteil. „Das ist der Anteil der Engel“, sagen die Schotten. Bleibt zu hoffen, dass sich ihr Reichtum nach der Unabhängigkeit nicht ähnlich verflüchtigt. Was sind schon Atomwaffen gegen einen James Bond? Plumper Destruktionsplunder. Nichts hat den britischen Willen, eine Weltmacht zu bleiben, überzeugender zum Ausdruck gebracht als der sexuell und technisch hochgerüstete Agent 007. Dass ausgerechnet die erste, beste, meistgeliebte Kinovariante Bonds vom überzeugten schottischen Nationalisten Sean Connery verkörpert wurde, war ein früher Haarriss im Gebilde Großbritannien. Connery, Jahrgang 1930, Arbeitersohn aus Edinburgh und vorm Umstieg auf die Schauspielerei Milchmann, Sarglackierer, Aktmodell und Bodybuilder, hat sein Schottischsein in jedem Interview und gern auch durch Auftritte im Kilt betont. Der Bond-Erfinder Ian Fleming musste  seinetwegen schottische Bond-Vorfahren in die Romane einfügen. Dem Vorwurf, er sei mit seinem Wohnsitz auf den  Bahamas ein  Steuerflüchtling,  hat Connery, Geldgeber der Scottish National Party, forsch entgegnet, er werde zurückkehren – aber erst in ein unabhängiges Schottland.