Für den weitgereisten Schriftsteller Ilija Trojanow ist die EU-Krise ein guter Anlass, ideologischen Ballast über Bord zu werfen.

Stuttgart - Es steht nicht gut um Europa. Allenthalben sinkt die Zustimmung zur Europäischen Union. Höchste Zeit, einen Mann um Rat zu fragen, der schon fast alle Ecken der Welt gesehen hat: den Schriftsteller und Reporter Ilija Trojanow.

 

Herr Trojanow, Eurorettungsschirme, Eurofrust, dänische Grenzkontrollen. Die Menschen scheinen Europas überdrüssig zu werden. Sagen Sie uns bitte etwas Gutes über Europa!

Ist das so? Sind die Bürger Europas frustriert? Ich denke, man muss hier zwei Phänomene unterscheiden. Viele Menschen sind in der Tat skeptisch gegenüber den Verkrustungen der Europäischen Union, dem Lobbyismus der Konzerne und der mächtigen Interessengruppen, den unüberschaubaren finanziellen Verknüpfungen und der demokratischen Intransparenz der Brüsseler Machtstrukturen. Diese Skepsis beschränkt sich aber nicht auf Europa. Die Bürger sind nicht minder skeptisch gegenüber ähnlichen Strukturen auf nationaler oder regionaler Ebene, wie das Beispiel Stuttgart 21 zeigt. Wenn es aber um das Leben und den Alltag geht, sieht es meiner Auffassung nach anders aus. Die Menschen, die ich kenne, genießen, dass sie überall in Europa über offene nationalstaatliche Grenzen hinweg reisen können, dass sie studieren können, wo sie wollen, und sich in jedem EU-Land niederlassen. Anders wäre nicht zu erklären, dass in meinem Bekanntenkreis die dänische Entscheidung nur kopfschüttelnd zur Kenntnis genommen worden ist.

Vielleicht liegt das an Ihrem Bekanntenkreis. Den Umfragen zufolge unterstützt zum Beispiel eine Mehrheit der dänischen Bürger die wieder eingeführten Grenzkontrollen.

Da mögen Sie recht haben, obgleich wir wahrscheinlich beide keine intimen Kenner dänischer Innenpolitik sind. Ich habe kürzlich dort meinen Roman "Der Weltensammler" auf Dänisch vorgestellt. Dabei fiel mir in der Tat auf, dass mindestens drei Rezensenten in renommierten Zeitungen Positionen vertreten haben, die wir in Deutschland als rechtsextrem bezeichnen würden. Wobei die Probleme auf einer anderen Ebene liegen. Die dänischen Grenzkontrollen richten sich ja nicht gegen schwedische Geschäftsleute und deutsche Touristen, sondern gegen Flüchtlinge aus ärmeren Teilen der Welt. Weil die Dänen keine Grenzschützer an der Mittelmeerküste aufstellen können, kontrollieren sie eben die Autobahn Flensburg-Kopenhagen. Das ist reine Symbolpolitik.

Symbolpolitik ist aber wichtig. Schließlich definiert sich die Europäische Union als Wertegemeinschaft.

Das ist dummes Geschwätz. Diese Idee wurde von der Realität abgewatscht wie selten ein politisches Konstrukt zuvor. Wir müssen nur nach Italien schauen oder nach Ungarn. Dort schränkt die Regierung Orban in Demokratie verachtender Weise die Pressefreiheit drastisch ein, ohne dass es ernsthafte Gegenwehr der EU gibt. Oder glauben Sie wirklich, dass die EU Ungarn ausschließen würde, wenn die Regierung dort einen autoritären Staat etablierte?

Gerade in Ostmitteleuropa war die europäische Idee in den Zeiten der kommunistischen Diktatur mit den freiheitlichen Bestrebungen der Bürgerbewegungen verknüpft. Ist das vorbei?

Ich kann Ihnen am Beispiel Bulgarien erläutern, wie wenig sich die Hoffnungen in die Europäische Union erfüllt haben. In Bulgarien hat es nach der Aufnahme des Landes in die Europäische Union so gut wie keine Verbesserungen gegeben, was Korruption, Meinungsvielfalt und Transparenz des Regierungshandelns angeht. Im Gegenteil: es wurde zum Teil noch schlimmer. Korruption ist ja wie ein Vampir. Sie wird stärker, je mehr Blut sie saugen kann. Und in Bulgarien gibt es heute wegen der EU-Millionen an Fördergeldern mehr zu holen als früher. 


Es ist offenbar nicht leicht, Ihnen etwas Positives über die EU und Europa zu entlocken. Versuchen wir es so herum: Sie sind zum Teil in Afrika aufgewachsen und haben viele Freunde auf dem Kontinent. Sieht man von dort, von außen, Europa nicht viel vereinter als wir Europäer im Innern es tun?

Ich bezweifle, dass in der Wahrnehmung der Schwarzafrikaner Europa als Ganzes überhaupt vorkommt. Sie müssen sich eine Europakarte aus den Augen eines Afrikaners so vorstellen: die ehemaligen Kolonialherrscher erscheinen riesengroß, also zum Beispiel für Mali Frankreich oder für Ghana Großbritannien, und der Rest bildet kaum mehr als ein Anhängsel. Für viele Intellektuelle zählt darüber hinaus weiterhin der Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa. Ein schwarzafrikanischer Freund von mir, ein weltberühmter Schriftsteller, fährt nicht mehr nach Osteuropa, weil er dort viele Male auf unglaubliche rassistische Anfeindungen gestoßen ist. Das kann ihm zwar auch in Paris oder Berlin passieren, aber die dünne Schicht der Zivilisation ist dort etwas dicker.

Sie glauben also nicht an eine europäische Identität?

Nein, eine europäische Identität gibt es nicht. Das sind irgendwelche akademischen abstrakten Konstrukte, über die sich gut bezahlte Vorträge auf Konferenzen halten lassen. Wenn sie von Berlin aus Richtung Südosten fahren, begegnen sie besonders anschaulich den Konfusionen, die um eine angebliche europäische Identität entstehen. Europa hört stets an der Grenze des jeweiligen Volkes auf, das man befragt. Die Österreicher äußern schon Bedenken, ob die Slowenen zu Europa gehören; die Slowenen zweifeln an der europäischen Identität der Kroaten; die Kroaten an derjenigen der Serben und die Serben an der Europafähigkeit der Türken. Einig sind sich die Europäer lediglich darin, ihre Grenzen mit paramilitärischen Mitteln vor den Armutsflüchtlingen vor allem aus islamischen Ländern zu schließen. Wenn Sie so wollen, ist das die europäische Identität.

Also kann man dieses ganze Europa genauso gut vergessen und ganz hopsgehen lassen?

Nein! Ich glaube keineswegs, dass Europa passé ist. Schließlich handelt es sich noch immer um den einzigen Kontinent, der die größte Herausforderung für die Menschheit in den nächsten Jahrzehnten erkannt hat, nämlich die ökologische Katastrophe. China und Indien haben zwar gewaltige Wachstumsraten, aber diese Länder kämpfen mit enormen Umweltzerstörungen. Ich denke, die Eurokrise werden die in den Griff bekommen. Dahinter steht jedoch eine essenzielle Krise des Systems, die auf der Ideologie des Wachstums fußt. Die müssen wir beseitigen, wenn wir als Menschheit eine Überlebenschance haben wollen.

Kann Europa dazu einen geistigen Beitrag leisten?

Wir erleben gerade, wie überall Solidargemeinschaften infrage gestellt werden. Das gilt in den Dörfern und Städten, in den Nationalstaaten bis hin zur Weltebene. Die Reichen in Deutschland glauben, sie müssten nicht für die Armen einstehen; die Deutschen meinen, die Griechen könnten ihnen egal sein; die Europäer denken, die Armut in anderen Teilen der Welt könne sie kalt lassen. Wenn es uns gelingt, diese Krise des Solidargedankens zu überwinden, dann stehen die Chancen für Europa gar nicht so schlecht. Wenn nicht wir Europäer das hinkriegen, wer sonst? 


Autor: Ilija Trojanow ist schon ziemlich herumgekommen. Er wurde 1965 in Bulgarien geboren. Sechs Jahre später flüchteten seine Eltern über Jugoslawien und Italien nach München. Ein Jahr später ging es weiter nach Kenia. Trojanow lebte in Paris, studierte in München, übersiedelte 1998 nach Mumbai, durchwanderte Tansania und lebt heute in Wien, Berlin und anderswo.

Werk: „Der Weltensammler“, Trojanows bisher erfolgreichster Roman, erzählt die Geschichte des britischen Abenteurers Richard Burton (1829–1890), der in Indien die Sprachen der Einheimischen sowie Arabisch erlernt und später als Moslem verkleidet eine Pilgerreise nach Mekka unternimmt. „Eistau“, der jüngste Roman des Schriftstellers, wird Ende August im Hanser Verlag erscheinen. Er handelt von einem Glaziologen und der Umweltzerstörung.