Hinter dem Mädchen liegt eine qualvolle Zeit. Für die Schülerin war die Rechtschreibung ein Buch mit sieben Siegeln. Irgendwann hat sie sich sogar unter dem Tisch verkrochen. Im Legasthenie-Zentrum in Möhringen wird Kindern wie ihr geholfen.

Die Odyssee für die Vaihinger Familie beginnt, als die ältere Tochter gerade in die zweite Klasse gekommen ist. Lesen, schreiben und rechnen, damit tut sich das Mädchen schwer. Das fällt bei den Hausaufgaben auf, auch die Lehrerin meldet zurück, dass die Leistungen unterdurchschnittlich sind. „Am Anfang denkt man noch, sie kann sich nicht konzentrieren“, erzählt die Mutter. Das Mädchen wird zur Ergotherapie angemeldet, doch die Noten bleiben schlecht.

 

Die Familie sucht verschiedenste Stellen auf – Augenarzt, Ohrenarzt, Förderunterricht, „das hat uns ja beschäftigt“, sagt die Mutter. Ohne Unterlass wird daheim und in der Nachhilfe geübt. „Man hat sich selber und das Kind gequält“, bekennt die Frau. Irgendwann gibt das Mädchen in der Schule komplett auf, klettert während des Unterrichts unter den Tisch. „Sie war verzweifelt“, sagt ihre Mutter rückblickend.

Legasthenie-Zentrum ist in Möhringen

„Bis wir hier gelandet sind und man uns geholfen hat, sind anderthalb Jahre vergangen“, sagt die Vaihingerin und blickt zu Reiner Hammer. Der Mann mit dem weißen Bart leitet das Legasthenie-Zentrum in Möhringen. Dort und im Stammhaus in der Stuttgarter Stadtmitte werden vor allem Kinder, aber auch Erwachsene mit Lese- und Rechtschreibschwächen behandelt. Auch die Dyskalkulie, also die Rechenschwäche, ist ein Thema in den Therapiesitzungen. Reiner Hammer hat unter anderem Kinderpsychologie studiert. Später hat er nach eigenen Angaben um die 650 000 Wörter untersucht und daraus ein Programm erstellt: das lautanalytische Funktionstraining.

Neurologische Ursachen oder Schäden am Gehirn hätten Betroffene nicht, sagt Reiner Hammer. „Es sind andere Lerntypen“, erklärt er. Während eine Person ohne entsprechendes Defizit ein Wort als Ganzes, als Bild, erfasse und wisse, was es bedeutet, funktioniere bei Legasthenikern die Wortbild-Abspeicherung nicht. Sie lernten Wörter übers Hören. Hier könne Silbentraining helfen. Mädchen und Jungen mit Rechenschwäche wiederum hätten subjektive Mengenvorstellungen.

Manche betroffene Kinder haben keine Freunde

In der Schule kann das Ganze schwere Auswirkungen haben, bis hin zur seelische Behinderung, etwa wenn Kinder in der Klasse gehänselt werden. „Wir haben Kinder, die treten aus dem Klassenverband aus, die haben keine Freunde“, sagt Reiner Hammer. Er stellt klar: Legasthenie und Dyskalkulie seien durchaus weit verbreitet. „Sie können davon ausgehen, dass in jeder Klasse drei bis vier Kinder sind, mit unterschiedlichen Ausprägungen.“ Manches Kind werde zum Klassenkasper, manches zum Streithammel. Der Leidensdruck sei oftmals immens. „Wir haben Kinder, die haben in der dritten Klasse einen Selbstmordversuch hinter sich.“

Frustrierte Familien trifft Reiner Hammer „am laufenden Band“. In den Schulen heiße es allzu oft: Das kommt schon noch. Auch Vorurteile gebe es, etwa, dass das Kind faul sei. Er sagt jedoch: Die betroffenen Kinder lernen anders und können deswegen dem Standardunterricht nicht folgen. „Die Pädagogik macht jedoch mit allen Kindern das Gleiche.“ Mehr als 800 Lehrerfortbildungen habe Reiner Hammer daher bereits geleitet, „da erkläre ich denen, wie ein rechenschwaches Kind denkt“.

Noten hätten fürs Gymnasium gereicht

Heute sind beide Töchter der Vaihingerin, zwölf und neun Jahre alt, im Möhringer Legasthenie-Zentrum in Therapie. Mit Erfolg. Die Große hat in der Vergangenheit die dritte Klasse wiederholt und den Stoff dank der Therapie neu aufgearbeitet. Die Noten sind gut, hätten sogar fürs Gymnasium gereicht. „Wir haben uns aber bewusst für die Realschule entschieden“, sagt ihre Mutter. Bei der jüngeren Tochter hat sich die Familie vieles erspart und stattdessen früh mit der Therapie begonnen. „Die Kleine sagt: Mathe macht Spaß“, berichtet Reiner Hammer und lächelt.

Am 30. September ist der Tag der Legasthenie und Dyskalkulie. Er soll Aufmerksamkeit schaffen. Auch die Vaihinger Mutter findet, es sei wichtig, über das Thema zu reden. „Ich kann mir vorstellen, dass viele Eltern sagen: Dann ist es, wie es ist“, es sei jedoch wichtig, dass Familien nicht resignierten und hartnäckig blieben. Auch Reiner Hammer betont: Je früher eine Schwäche erkannt und therapiert werde, desto besser. Er stellt klar: „Es gibt keine dummen Kinder.“