Keiko Fukumitsu will Schuhmacherin werden. Dafür ist die 23-jährige Japanerin ins 9000 Kilometer entfernte Stuttgart gezogen.  

Stuttgart - Über diesen einen Tag redet Keiko Fukumitsu nicht gern. Ihr Körper sträubt sich förmlich dagegen. Als ihr eine Strähne ins Gesicht fällt und sie nichts dagegen tut, sie nicht aus dem Blickfeld pustet oder wischt, wirkt sie wie gefesselt. "Es war schrecklich, ein anderes Wort fällt mir wirklich nicht ein", sagt die 23-Jährige. Das liegt nicht allein daran, dass sich die Japanerin mit der deutschen Sprache zuweilen noch etwas schwertut. Das Erdbeben, der Tsunami und die Atomkatastrophe von Fukushima sind schlichtweg zu überwältigend gewesen. Hinzu kommt, dass ihr Mitteilungsbedürfnis sehr gering ist. "Europäer", sagt Keiko Fukumitsu, "reden so viel, teilweise ohne Sinn." Dieses ständige "Wie geht's?". Es ist ihr fremd.

 

Keiko Fukumitsu ist eine Rarität. Sie macht in Deutschland eine Ausbildung zur Schuhmacherin, einem vom Aussterben bedrohten Metier. Gab es vor einigen Jahren in Stuttgart noch eine Berufsschule, muss Keiko Fukumitsu inzwischen regelmäßig zum Blockunterricht nach München fahren. Und dort besteht ihre Klasse zum allergrößten Teil aus Orthopädieschuhmachern und Schuhfertigern. Junge Menschen, die mit konservativen Augen betrachtet ja im Grunde gar keine richtigen Handwerker sind, weil sie kaum noch von Hand arbeiten.

Keiko Fukumitsu ist eine echte Handwerkerin - und für ihre dreijährige Ausbildung mehr als 9000 Kilometer angereist. Aus ihrer Heimatstadt Hiroshima auf den Stuttgarter Killesberg, in das Geschäft von Davor Krivak. In Japan hatte sie eine Zeit lang im Büro als Sekretärin gearbeitet und sich dabei zu Tode gelangweilt. "Ständig am Computer zu sitzen, das war nichts für mich", sagt sie. "Ich wollte dieses Handwerk lernen" - und zwar in Deutschland, dem Land, in das sie sich bei einer Reise nach dem japanischen Abitur verliebt hatte.

Der Beruf ist kein Zuckerschlecken

Damals war sie von der eigenen Unentschlossenheit gefangen gewesen. "Ich wollte nicht studieren und wollte nicht arbeiten", erinnert sie sich. Über das Goethe-Institut landete sie in Schwäbisch Hall und reiste von dort aus quer durch das Land. "Ich habe viel gesehen", sagt sie, "aber nichts hat mich so sehr fasziniert wie die Schuhmacher, die ich kennenlernte."

Von Japan aus stellte sie eine Stellenanfrage auf die Internetseite des Bundesinnungsverbands. Die entdeckte Krivak. "Reiner Zufall", sagt der Meister, "auf die Seite klicke ich vielleicht einmal pro Jahr." Weil er in der Region längst keine geeigneten Kandidaten mehr findet, nahm er vorsichtig Kontakt auf. "Ich wollte sehen, ob sie auch keine verträumte Vorstellung von dem Beruf hat", sagt er - und berichtet von jungen Frauen, die zu ihm kämen, weil sie lernen wollten, "wie man hübsche Damenschühchen macht". Ein halbes Jahr wanderten E-Mails von West nach Ost und von Ost nach West, dann waren beide davon überzeugt, es versuchen zu wollen. "Keiko hat verstanden, dass der Beruf kein Zuckerschlecken ist", sagt Krivak. Vor etwas mehr als einem Jahr hat sie ihre Ausbildung begonnen.

Für den pensionierten Stuttgarter Zahnarzt, der vor einigen Wochen in Krivaks Geschäft spazierte, ist dieser Umstand zum Glücksfall geworden. Der Mann kam mit seinen neuen synthetischen Halbschuhen einfach nicht zurecht, also sollten die 35 Jahre alten Lederschuhe wieder gerichtet werden. Die Reparatur der Schmuckstücke hätte der Schuhmacher Krivak, wäre er alleine gewesen, nicht angenommen - "viel zu aufwendig". Seine Schülerin aber nahm sich der Schuhe an, investierte Stunden und Tage, fertigte passgenaue neue Absätze, pflegte, schliff und nähte. "Wenn du mit der Nadel durch zwei Lederschichten durchmusst, gibt das richtig Muckis", sagt Krivak. Keiko Fukumitsu musste. Auch wenn es die Prüfungsordnung - zum Ärger ihres Meisters - inzwischen nicht mehr verlangt. "Mit der Maschine triffst du niemals die alten Löcher", sagt Krivak.


Wenn er seine Auszubildende beobachtet, wie sie - eine weinrote Schürze um die Hüfte - mit konzentriertem Blick an der Schleifmaschine hantiert, blitzt Stolz aus seinen Augen. "Das Ding hat mehrere PS und läuft mit ein paar tausend Umdrehungen. Als sie das erste Mal hin ist, hatte ich Angst um sie." Angst, weil Krivak weiß, wie anstrengend die Arbeit an der Maschine ist, wie schnell der Arm schwer wird und der Blick starr. Angst auch, weil seine Schülerin damals noch kaum Handwerkserfahrung hatte. "Nur Origami konnte sie, und wie."

Der 46-Jährige ist das genaue Gegenteil seines Lehrlings - ein wahrer Wirbelwind, der in Gesprächen gleich die Initiative an sich reißt. Wer nicht aufpasst, findet sich plötzlich in einem Fachmonolog wieder, in dem man unterzugehen droht. Krivak wirft dann mit Begriffen wie Brandsohle, Schaft, Rahmen um sich - und während man noch an einer inneren Verknüpfung bastelt, zeigt er einem bereits, wie aus Hanfgarn und Pech ein Faden wird, der sich wie Draht anfühlt und deshalb auch so heißt: Pechdraht. Krivaks Geschäft, das er von seinem Vater übernommen hat, ist ein kleines Reich für sich, die Eingangstür die Pforte zu einer Zeitkapsel. An der Wand hängt ein gerahmtes Foto von Manfred Rommel und dem jungen Davor Krivak, die Kasse mit der Handkurbel sieht so aus, als habe sie etwa so viele Jahre auf dem Buckel wie Stuttgarts Alt-OB. In der Werkstatt riecht es nach Leder. Überall an der Decke baumeln Rohleisten aus Holz, "die standen schon in den Regalen von meinem Vater", sagt Krivak. Groß gewachsene Menschen bekommen in der Werkstatt ein Körperhaltungsproblem.

"Manchmal vermisse ich noch das Sushi"

Diese kleine Welt ist ein Teil von Keiko Fukumitsus neuer Heimat geworden. "Manchmal vermisse ich noch das Sushi", sagt sie. Sie hat sich eingelebt, ihr Deutsch ist gefestigt, die Furcht vor der Berufsschule kleiner geworden. Mit einem Notenschnitt von 1,8 hat sie das erste Jahr in München abgeschlossen. "Anfangs habe ich gedacht, das kann ich nicht schaffen." Jetzt ist eine Drei in Deutsch ihre schlechteste Note, und sie denkt daran, irgendwann als Schuhmachermeisterin nach Japan zurückzukehren. "In Tokio oder Osaka gibt es viele Möglichkeiten."

In Stuttgart geht die passionierte Fußballerin mehrfach pro Woche trainieren. Sie hat sich dem Verbandsligisten VfB Obertürkheim angeschlossen. Und sie trifft sich mit japanischen Betriebssportlern weltweit agierender Großunternehmen, um mit ihnen zu kicken.

Was für ein Jahr!

Wenn sie an Silvester in Hiroshima ihren 24. Geburtstag feiert und auf dieses voll gepackte Jahr zurückblickt, wird sie sich nicht nur an die Schuhe und die Schule erinnern, nicht nur an den furchtbaren 11. März, sondern auch an den 17. Juli, dem Tag des Endspiels der Frauen-Weltmeisterschaft.

Das kleine Japan, der geheimste unter den Geheimfavoriten, hatte Deutschland besiegt und sich bis ins Finale gegen die USA weitergekämpft. Keiko Fukumitsu saß mit einer Freundin auf der Tribüne des Frankfurter Stadions, fieberte, zitterte, zweifelte - und jubelte nach dem Triumph im Elfmeterschießen wie wild. Um ein Haar hätte sie ihren Zug zurück nach München verpasst, weil sie unbedingt die Siegerehrung miterleben wollte. "Wir haben vor lauter Freude geweint", sagt sie - und ihr ganzes Gesicht strahlt völlig entfesselt, völlig entspannt. Was für ein Jahr!