Streit um Schopper-Kritik Schieben Gymnasien schwächere Schüler ab? – Das sagen die Zahlen
Die Kultusministerin findet, dass die Gymnasien zu viele Schüler an andere Schularten „abschulen“. Ihr Haus hat nun Daten erhoben.
Die Kultusministerin findet, dass die Gymnasien zu viele Schüler an andere Schularten „abschulen“. Ihr Haus hat nun Daten erhoben.
Kultusministerin Theresa Schopper hat sich beim Schulstartinterview mit unserer Zeitung zum Ende der Sommerferien Ärger eingehandelt. Zur Wiedereinführung des neuen neunjährigen Gymnasiums sagte sie, dass „die alte Tendenz, in der Mittelstufe großzügig ,abzuschulen’ – scheußliches Wort – jetzt umgedreht werden“ müsse. Die Aussage, dass viele Schulen und ihre Lehrkräfte einiges unternehmen, um schwächere Schüler an eine andere Schulart loszuwerden, hat viele Lehrer aufgebracht und auch Kritik bei der Opposition im Landtag ausgelöst. Für die FDP-Fraktion wollte deshalb deren Bildungsexperte Timm Kern wissen, wie sich die Zahlen beim Wechsel von Gymnasien und Realschulen an andere Schularten tatsächlich entwickelt haben.
Das Kultusministerium hat inzwischen offengelegt, wie viele Schülerinnen und Schüler seit dem Schuljahr 2005/2006 jeweils nach den Sommerferien von welchen Schularten wohin gewechselt sind. Ausweislich der Antwort auf die FDP-Anfrage, die unserer Redaktion exklusiv vorliegt, sieht das Haus von Kultusministerin Theresa Schopper durch die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung im Jahr 2012 „keine signifikante Veränderung“. Gestiegen ist die Zahl der Abschulungen seit diesem Zeitpunkt aber schon.
Im Schuljahr 2012/13 – dem letzten Jahr, in dem die Empfehlung der Grundschule den Ausschlag für den Übergang zwischen Grundschule und weiterführender Schule gab – wechselten landesweit 2128 Schüler zum Schuljahresbeginn von einem Gymnasium auf eine Real-, Gemeinschafts-, Werkreal oder Waldorfschule; das entspricht einem Anteil von einem Prozent der Fünft- bis Zehntklässler an Gymnasien. In den Realschulen waren es landesweit 1177 Schüler, die auf eine Werkreal-, Gemeinschafts- oder Waldorfschule wechselten; das entsprach 0,5 Prozent der Realschüler. Im Jahr danach, als erstmals der Elternwille allein über die Schullaufbahn der Kinder entschied, gab es an den Gymnasien 2145 Abschulungen (Quote: ein Prozent) und an den Realschulen 1478 derartige Schulartwechsler (0,7 Prozent). In diesen Zahlen enthalten sind Schüler, die aus eigenem Antrieb wechseln, weil sie sich an einer anderen Schulart besser aufgehoben sehen, und solche, die das Gymnasium verlassen müssen, weil sie mehr als zweimal sitzengeblieben sind.
Deutlicher als diese moderate Zunahme zeigt ein sprunghafter Anstieg der Klassenwiederholungen, dass die neuen Regeln für die Schulwahl tatsächlich einen Einschnitt markiert haben: Die Quote der Sitzenbleiber in der fünften Klasse stieg damals von 0,4 auf 1,2 Prozent an den Gymnasien und von 0,7 auf 3,1 Prozent an den Realschulen.
Im vorigen Schuljahr 2024/25 wurden sowohl bei den Gymnasien mit 5083 Schulartwechslern (2,5 Prozent) als auch an den Realschulen bei 2142 Abschulungen (1,1 Prozent) die höchsten Werte der vergangenen zwanzig Jahre gemessen. Darin zeigen sich ganz wesentlich die Belastungen der Kinder und Jugendlichen in der Corona-Zeit und ihre Nachwirkungen.
Schaut man sich die Wechsel vom Gymnasium an eine Realschule genauer an – dieser Schulwechsel ist der mit großem Abstand häufigste – dann wird zweierlei deutlich. Zum einen findet die übergroße Mehrheit dieser Wechsel zwischen der sechsten und der neunten Klasse statt. Zum anderen wurden in den acht Jahren bis zum Ende der verbindlichen Grundschulempfehlung in allen Klassenstufen im Durchschnitt fast durchgängig weniger Kinder von Gymnasien an Realschulen abgegeben als in den zwölf Jahren danach. Vor der Reform der Grundschulempfehlung wechselten im Schnitt 32 Fünftklässler von einem Gymnasium an eine Realschule, danach waren es 66. Bei den Sechstklässlern stieg die Zahl von 311 auf 437, bei den Achtklässlern von 601 auf 633. Lediglich bei den Neuntklässlern sankt der Wert von durchschnittlich 703 auf 608 Gymnasiasten, die auf eine Realschule wechselten.
Der FDP-Schulexperte Timm Kern wertet die Entwicklung als „Offenbarungseid“ für die grüne Bildungspolitik. „Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Seit 2012 sind insbesondere an den Gymnasien die Abschulungen deutlich gestiegen. Noch eindeutiger zeigt sich der Zusammenhang beim Sitzenbleiben: An den Gymnasien hat sich die Quote in Klasse fünf unmittelbar nach der Abschaffung verdreifacht, an den Realschulen sogar vervierfacht.“ Schoppers Interview-Aussage, dass die Schulen „großzügig abschulen“ bewertet Kern als Diffamierung der Schulleitungen und der Lehrkräfte. „Die Ursache liegt natürlich nicht an vermeintlich zu strengen Gymnasiallehrkräften, sondern an falschen bildungspolitischen Entscheidungen“. Der FDP-Politiker forderte denn auch erneut die Wiedereinführung der verbindlichen Grundschulempfehlung für jede Schulart und die Rückkehr zum „bewährten vielgliedrigen Schulsystem“.
So eindeutig geben die vom Kultusministerium gelieferten Daten Kerns Interpretation aber nicht her, dass die verbindliche Grundschulempfehlung eine bessere Grundlage für die Wahl der weiterführenden Schule ist. Vor 2012 wechselten zwischen 1,0 und 1,6 Prozent der Gymnasiasten zwischen Klasse fünf und zehn an eine andere Schule; seither waren es zwischen zwischen 1,3 und 2,5 Prozent. Dass das Kultusministerium diese Differenz als „nicht signifikant“ einstuft, ist nachvollziehbar. Allerdings: Die außerordentlich niedrigen Fallzahlen entlarven auch Theresa Schoppers Aussagen über eine großzügige Abschulungspraxis an den Gymnasien als Irrtum.
Anstieg
Das Gymnasium ist seit vielen Jahrzehnten die beliebteste Schulart in Baden-Württemberg. Der Trend, dass die Übergangsquoten landesweit steigen hat sich durch die Abschaffung der verbindlichken Grundschulempfehlung noch einmal beschleunigt. Vor zwanzig Jahren nannte das Statistische Landesamt eine Gymnasialquote von landesweit 37,8 Prozent. Bis 2011 stieg sie auf 40,9 Prozent. Im Jahr nach dem Ende der Verbindlichkeit machte die Übergangsquote einen Satz auf 43,9 Prozent
Wendepunkt
Seither ist die Quote weiter gestiegen, hat aber ihren Zenit – mindestens vorläufig – überschritten. Der Höchststand mit 45 Prozent im Schuljahr war 2022/23 erreicht. Seither sinkt die Quote – zunächst auf 43,6 Prozent, im vorigen Schuljahr auf 42,8 Prozent. luß