Schulbeginn in Russland Heimatliebe steht jetzt auf dem Stundenplan

Zum Schuljahresbeginn in der russischen Millionenstadt Rostow am Don stehen die Schulkinder in militärisch anmutender Anordnung. Foto: Imago/Itar-Tass/Imago/Erik Romanenko

Pünktlich zum Schulbeginn investiert Russland in die ideologische Bildung. Schon Drittklässler sollen lernen, dass es kein größeres Glück gibt, als für die Heimat zu sterben.

Korrespondenten: Inna Hartwich

Die russische Trikolore im Hof der Schule Nummer 56 im Moskauer Westen flattert noch am Nachmittag im kühlen Herbstwind. Am Morgen hat sie ein Elftklässler hier hochgezogen, begleitet von der russischen Hymne. Es ist Schulanfang in Russland. Die Mädchen haben weiße Schleifen im Haar, die Jungen tragen Anzug samt Fliege. Und alle überreichen sie Blumen an ihre Lehrerinnen. Der siebenjährige Marat hält auch nach der Feier noch seine roten Rosen in der Hand. „Vergessen, sie zu übergeben“, sagt die Mutter und lacht. Die Hymne scheint an ihm vorbeigegangen zu sein. „Es wurde da irgendwas gespielt“, sagt er schüchtern.

 

Die Flaggen zu hissen und die Nationalhymne zu spielen ist seit diesem 1. September wieder Pflicht an jeder staatlichen Schule im Land, wie es an jeder Schule in der Sowjetunion Pflicht war. Russlands Präsident Wladimir Putin hatte sich bereits vor den Sommerferien dafür ausgesprochen, jede Schulwoche so beginnen zu lassen. Den Kindern müsse schließlich die Liebe zum Vaterland vermittelt werden. Dazu gehört auch, dass Geschichte ab der ersten Klasse unterrichtet wird – samt Gesprächen über die Richtigkeit der „militärischen Spezialoperation“, wie Russland den Krieg in der Ukraine offiziell nennt.

Erziehungsratgeber für Lehrkräfte

Ideologische Erziehungsarbeit wird, wie bereits zu Sowjetzeiten, wieder Teil der schulischen Bildung. Laut Umfragen sind es vor allem junge Menschen im Land, die das Handeln ihrer Regierung infrage stellen, die auch den Krieg in ihrem Nachbarland verurteilen. Der Kreml will offenbar so früh wie möglich solche Umtriebe unterbinden. Das Bildungsministerium stellt allen Schuldirektoren einen Erziehungsberater zur Seite. Nicht nur Kinder sollen die Liebe zum Heimatland lernen, sondern die ganze Familie, heißt es im Aufklärungsministerium, wie das Bildungsministerium in Russland genannt wird.

Die wenigsten Eltern im Land stören sich an Flagge und Hymne. Viele nehmen die Neuerung als nostalgische Erinnerung an ihre eigene Schulzeit wahr, erzählen fast schon freudig, wie sie einst bei der sogenannten Linejka, wie der feierliche Appell vor dem Beginn des Unterrichts bis heute heißt, selbst nach vorn getreten seien und voller Aufregung an der Kurbel der Fahnenstange drehten, in der Hoffnung, sie möge nicht klemmen. Diese Hochzieh-Ehre war lediglich Schülern mit Bestnoten vorbehalten. Nun zögen eben ihre eigenen Kinder die Flagge hoch, sagen manche Eltern. Was sei schon dabei?

Putin macht vor, wie es gehen soll

Bei der Fahne allein aber bleibt es nicht. Ab kommendem Montag beginnen die sogenannten Gespräche über Wichtiges. Eine Art Klassenstunde, damit die Kinder begriffen, was Heimat sei. Das erste Gespräch führte gleich am Einschulungstag der Präsident höchstpersönlich. In Kaliningrad, der russischen Enklave an der Ostsee, legte Putin vor Siegern schulischer Wettbewerbe seine Sicht auf die Geschichte dar und beschrieb ein stets von außen bedrohtes Russland, das sich immer zu wehren wisse. Kritische Anmerkungen waren nicht gestattet, wie Kritik an der offiziellen Geschichtsschreibung ohnehin nicht erlaubt ist im Land.

In Handbüchern des Aufklärungsministeriums finden Lehrer seit ein paar Tagen vorbereitete Anleitungen – mit Fragen für sie und möglichen Antworten ihrer Schüler. Jede Woche ist einem anderen Thema gewidmet: „Russland ist unser Land“, „Traditionelle Familienwerte“, „Einheit des Volkes“. Jede Klasse soll über Heimat diskutieren, „Emotionen sind dabei wichtig“, steht im Handbuch. Die Diskussion aber dürfte, sieht man sich die sehr genauen Vorgaben des Ministeriums an, einseitig ablaufen.

Videos und Spiele zur Unterstützung

Für Erst- und Zweitklässler ist im Rahmen der Russland-ist-unsere-Heimat-Stunde das Lernen des sowjetischen Liedes „Womit fängt die Heimat an?“ vorgesehen. Die Kinder sollen mit dem Stolz auf ihr Vaterland aus der Stunde herausgehen, heißt es in der Anweisung an die Pädagogen.

Dritt- und Viertklässler sollen Sprichwörter zur Heimat sammeln. Als Beispiele werden solche Sätze wie „Schone weder Kraft noch Leben für dein Heimatland“, „Das Glück der Heimat ist teurer als das eigene Leben“ oder „Für die Mutter Heimat zu sterben, macht keine Angst“ genannt. Am Ende der Stunde gilt es, einen Aufsatz zum Thema „Wie dient ihr der Heimat?“ zu schreiben.

Ab Klasse fünf sollen die Schüler die Ziele der Spezialoperation begreifen, sollen wissen, dass DNR und LNR, die selbst ernannten Volksrepubliken im Donbass, Russland und russische Soldaten Helden seien. „Krieg stärkt die Liebe zum Vaterland“, steht da für Zehntklässler geschrieben. „Echte Patrioten bekommen einen Orden von Wladimir Putin“, heißt es weiter. Videos, Spiele und Lieder sollen den Unterricht zur Heimatliebe interaktiv gestalten. 22 Millionen Rubel (umgerechnet etwa 360 000 Euro) gibt der Staat für das Programm aus.

Kritik von Psychologin

Die russische Psychologin Ljudmila Petranowskaja sieht in den Gesprächen einen Versuch, „die Gesellschaft in die vom Kreml gewollte Richtung zu beeinflussen“. Kinder und Jugendliche hätten immer großes Interesse an Gesprächen darüber, was sie umgebe und bewege. „Eine gute Schule sollte eine sichere Umgebung für Dialog sein. Russische Staatsschulen sind es nicht.“ Hier sei es immer noch der Lehrer, der erkläre, was richtig sei. Ein Hinterfragen der aufgezwungenen Gespräche sei so nicht möglich, ein Dialog schon gar nicht erwünscht. Oft stützen sich Schuldirektoren im Land auf den Standpunkt, weil sie beim Staat angestellt seien, müssten sie das Handeln der Regierung fraglos unterstützen.

In Whatsapp-Gruppen und Telegram-Chats tauschen sich manche Eltern über Strategien aus, wie ihre Kinder den patriotischen Unterricht umgehen könnten. „Ist Schwänzen ok?“, fragt eine Mutter. Da politische Agitation nach russischem Bildungsgesetz eigentlich verboten ist und selbst das Aufklärungsministerium von Empfehlungen für die „Gesprächen über Wichtiges“ spricht, raten Juristen zum Versäumen solcher Klassenstunden. Doch das gelte nur für Schüler, nicht für Lehrer, schreibt ein Anwalt.

Verzweifelte Lehrerin

Eine Moskauer Lehrerin, die Julia genannt werden will, erzählt davon, wie sie der aufgezwungenen Gehirnwäsche, so nennt sie die Klassenstunden, entkommen will, wohl wissend, dass sie es auf Dauer nicht kann. „Ich könnte mit den Schülern Tee trinken und über das sprechen, was sie gerade bewegt. Aber irgendwann will die Direktorin einen Bericht vorgelegt bekommen. Ich bringe es nicht übers Herz, meinen Schülern davon zu erzählen, dass russische Soldaten Helden sind.“ Ihre einzige Option wäre zu kündigen. „Aber so viele Privatschulen gibt es gar nicht in unserem Land, um uns, nicht einverstandene Lehrer, alle aufnehmen zu können“, sagt sie resigniert.

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