Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Stefan Düll, sieht die Schulen aufgrund des Lehrkräftemangels schon jetzt „an der Grenze zur Überforderung“. Er dringt auf klarere Regeln für Migration – und auf ein Sondervermögen für die Bildung von 200 Milliarden Euro.
Herr Düll, hilft die Politik den Schulen ausreichend, damit sie Flüchtlingskinder aus der Ukraine und aus anderen Ländern gut betreuen können?
Auch unabhängig von den Herausforderungen durch Flucht und Migration gilt: Schon mit der derzeitigen Zahl an Kindern und Jugendlichen stehen viele Schulen an der Grenze zur Überforderung. Oft ist diese Grenze auch schon überschritten. Viele Klassen sind zu groß. An Grundschulen gilt oft: Wenn sich eine Lehrkraft kurzfristig krankmeldet, muss eine andere zwei Klassen parallel betreuen. Der Lehrkräftemangel macht sich schon jetzt, wenn auch nicht überall gleichermaßen, sehr stark bemerkbar.
Fallen angesichts der großen Gesamtprobleme die aktuellen Herausforderungen durch geflüchtete Kinder also gar nicht mehr so ins Gewicht?
Leider ist es andersherum richtig. Die Situation an vielen Schulen ist schon jetzt so prekär, dass die Herausforderungen durch geflüchtete Kinder natürlich ins Gewicht fallen. Für die Arbeit in den Vorbereitungsklassen braucht es zusätzliche Kräfte. Wenn die Kinder – was pädagogisch richtig ist – nach einer gewissen Zeit in die Regelklassen integriert werden, geht das nicht immer ohne Bildung neuer Klassen. Und dann fehlen dort erst recht die nötigen Lehrkräfte. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die Lehrerinnen und Lehrer wollen helfen. Aber es kann auch nicht sein, dass die Politik wegschaut, wenn der Lehrkräftemangel und die daraus folgenden Probleme immer größer werden.
Was fordern Sie also von der Politik – sowohl mit Blick auf das Management der Migration als auch im Allgemeinen?
Die Politik muss in Sachen Migration ihre Hausaufgaben machen. Sie muss die Migration nach Deutschland sinnvoll steuern und auch begrenzen. Wenn sie das nicht tun will, müsste sie sagen, wie die Herausforderungen trotz der fehlenden Lehrkräfte bewältigt werden sollen. Das kann sie aber offenkundig nicht. Das Problem fängt bereits in der Kita an, wo zusätzliche Kräfte fehlen.
Sehen Sie denn gar keine Chancen, den Lehrkräftemangel erfolgreich zu bekämpfen?
Ich bin grundsätzlich Optimist. Deshalb – und nur deshalb – sage ich: Noch ist es fünf vor zwölf. Die Länder müssen alles tun, um bei jungen Menschen mit Abitur dafür zu werben, dass sie ins Lehramtsstudium gehen. Dabei wäre es schön, wenn auch viele junge Menschen mit Migrationsgeschichte für den Beruf gewonnen werden könnten. Ihre Integration trüge zur schulischen Integration der neu Zugewanderten bei. Und grundsätzlich gilt, bei allen Herausforderungen ist es schön, junge Menschen zu unterrichten und sie zu eigenverantwortlichen und selbstständigen Persönlichkeiten zu bilden.
Das ist ein Langzeitprojekt.
Auch kurzfristig können die Länder etwas tun. Sie müssen versuchen, durch verbesserte Arbeitsbedingungen Teilzeit-Lehrkräfte dafür zu gewinnen, mehr zu arbeiten. Das kann tatsächlich funktionieren, wenn Lehrkräfte durch flankierendes Personal und multiprofessionelle Teams unterstützt werden. Dabei geht es darum, Lehrkräfte von Verwaltungsaufgaben zu entlasten und sie darüber hinaus in der Arbeit mit den Heranwachsenden durch Personal in der Sozial- und Jugendarbeit und der Schulpsychologie zu unterstützen.
Die Kultusministerkonferenz geht davon aus, dass sich die Zahl der Schüler bis 2035 um eine Million Schüler erhöhen wird. Wie viele zusätzliche Lehrerinnen und Lehrer braucht man dafür?
Die Situation unterscheidet sich je nach Schulform, aber auch von Schule zu Schule. Im Großen und Ganzen gilt: Für eine Million zusätzlicher Schüler brauchen wir aufseiten der Lehrkräfte etwa 50 000 Vollzeitstellen mehr. Wenn wir die übliche Teilzeitquote berücksichtigen, sprechen wir über ungefähr 80 000 Menschen, die wir für den Schuldienst gewinnen müssen.
Das klingt nicht nur so, als könnte es schwierig werden, diese Menschen zu finden. Sondern auch danach, als bräuchte es viel zusätzliches Geld.
Das gilt ohne jeden Zweifel. Allein der Sanierungsstau an den Schulen beläuft sich auf 50 Milliarden Euro. Berücksichtigt man, was zusätzlich dazu nun über Jahre getan werden muss – auch und gerade mit Blick auf mehr Personal – dann reden wir über weitere 150 Milliarden Euro. Der Bund hat für die Bundeswehr ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro aufgelegt. Bei der Bildung sind bekanntlich auch die Länder gefordert. Bund und Länder sollten zusammenlegen und für die nächsten zehn, zwölf Jahre ein Sondervermögen Bildung von 200 Milliarden Euro schaffen. Auch damit würde nicht jedes Problem gelöst. Es ist aber das Geld, das die deutschen Schulen realistisch brauchen, um Ihren Auftrag nachhaltiger Bildung und Erziehung der künftigen Generationen zu erfüllen.